Full text: Europäischer Geschichtskalender. Achter Jahrgang. 1867. (8)

Rußland. 431 
— Aug. (Polen.) Die offiz. Ztg. meldet fast täglich Verschenkungen 
von Staatsgütern an russische Militärs und Beamte unter der Be- 
dingung des orthodoxen Glaubensbekenntnisses für ihre Nachfolger. 
Der renitente Bischof von Kaminicz in Podolien wird nach Sym- 
pheropol internirt und dahin abgeführt und dem zu Warschau in 
Haft gehaltenen Bischof von Podlachien dasselbe angedroht, wenn er sich 
nicht füge. Auch das unirte Consistorium von Chelm befiehlt seinen 
Geistlichen, sich beim Gottesdienst und allen gottesdienstlichen Hand- 
lungen der russischen, statt der polnischen Sprache zu bedienen und 
alles wegzulassen, was nicht zum orthodoxen Cultus gehört. Die 
zahlreichen projectirten Volksschulen für Polen sollen spätestens bis zum 
1. Jan. 1866 eröffnet und der Religionsunterricht an denselben überall 
in russischer Sprache durch die ruthenischen Geistlichen ertheilt werden. 
Auch das niedere Gerichtswesen wird russifizirt, indem die sog. Woyt- 
ämter (Schulzen) aufgehoben und durch Bezirksgerichte ersetzt werden, 
deren Mitglieder durch die Regierung ernannt werden und entweder 
Russen sein oder der russischen Sprache mächtig sein sollen. National= 
russen, welche in Polen Staatsdienste nehmen wollen, werden durch 
k. Ukas mit besonderen Privilegien ausgestattet. 
1. Oct. (Baltische Provinzen). Auch die esthländische NRitterschaft 
läßt das ausschließliche adlige Güterbesitzrecht fallen, wodurch für 
alle 3 Ostseeprovinzen ein gleichmäßiger Zustand bez. des Erwerbs 
von Rittergütern hergestellt ist. 
— „ (hBaltische Provinzen). Das russ. Ministerium der Wege und 
öffentlichen Bauten erläßt an die Direction der Riga-Dünaburger- 
Eisenbahn den Befehl, daß alle ihre Bediensteten russisch sprechen 
müssen und schlägt das Gesuch um einjährige Gestundung für die 
Ausführung des Befehles ab. Zwanzig Preußen treten in Folge 
davon aus dem Bahndienst. Die localen Civilbehörden der Krone 
in den Ostseeprovinzen fassen ihre Correspondenzen an das Rigalsche 
Börsencomitc, an den Magistrat von Reval in russischer Sprache ab. 
Die national-russischen Blätter in Moskau verlangen geradezu und 
offen die Russifizirung der Ostseeprovinzen. 
Goloß: „Wir bestreiten keineswegs die Verdienste, welche die baltischen 
Deutschen Rußland erwiesen haben. Zwischen Deutschen und Deutschen ist aber 
ein Unterschied. Wahre Verdienste haben nur diejenigen um das Vaterland 
gehabt, die vollständig Russen geworden sind. Solche Deutsche wird Rußland 
stets werth halten; aber diese wackern Persönlichkeiten haben nichts gemein 
mit den parasitischen deutschen Baronen, welche das Blut der von ihnen des 
Landes beraubten Bauern aussaugen, noch mit den Mitgliedern verschiedener 
deutschen Gesellschaften in Rußland, welche ihre Musikanten zwanzigmal die 
preußische Natienalhymne spielen lassen.“ „Moskwa“: „Von zwei Dingen 
eines — entweder den baltischen Deutschen die volle Möglichkeit lassen, die 
Lokalbevölkerung zu germanisiren, und so mit eigenen Händen allmählig das 
Gebiet des deutschen „Vaterlands“, in dessen Nähe schon jetzt, noch ehe es sich 
vollständig gebildet, die erste europäische Militärmacht eine starke Unruhe
	        
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