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30. Sept. Auf den Vorschlag Rußlands übergeben dieses, Frankreich, Preußen
und Italien der Pforte eine gemeinsame „Erklärung“, durch welche
sie ihrerseits die diplomatische Intervention in Betreff Candia's zum
Abschluß bringen wollen. England und Oesterreich haben den Bei-
tritt zu der Erklärung abgelehnt.
Die Erklärung erinnert daran, daß vom Beginn der in Creta stattgesun-
denen bedauerlichen Ereignisse mehrere Großmächte übereingekommen seien,
der Pforte zu empj#ehlen, daß sie das Blutvergießen einstelle und in Gemein-
schaft mit ihnen durch eine lovale Enquêete über die Klagen und Wünsche der
Candioten eine Lösung suche. Vorläufig bestanden sie darauf, die Familien
der Insurgenten den Kriegsunfällen zu entziehen. Die Pforte hat dem keine
materiellen Hindernisse entgegengestellt, aber den Rathschlägen, den Anforber-
ungen der Cabinette hat sie eine unbesiegbare Unthätigkeit entgegengesekz.
Die Amnestie, welche die Einstellung der Feindseligkeiten anbot, enthält keine
eingige Garantie, welche die Maßregel zu einer ernsten machen könnte, und
die definitive Verweigerung einer ECnquste läßt keinerlei Lösung der anhän-
gigen Fragen, keine Abhilfe der Mißbräuche erwarten, welche die candiotische
Crhebung hervorriefen, den christlichen Orient erregten und die Sorge der
Großmächte wachriesen. Trotz ihrem Drängen ist keine organische Resorm
angeordnet, um den Wünschen der übrigen christlichen Bevölkcrungen Genüge
zu leisten, für welche der Anblick dieses hartnäckigen Kampfes eine sortwäh-
rende Ursache der Aufregung ist. Unter diesen Conjuncturen haben die Mächte,
welche ihre Rathschläge der Pforte anboten, das Bewußtsein, das vollbracht
zu haben, was ihnen ihre Menschlichkeits-Gefühle und ihre Sympatbien ge-
boten, nicht nur für die allgemeinen Interessen der christlichen Racen, sondern
für die Zukunft der Türkei selbst, denn diese Zukunft ist unlösbar mit der
Nuhe der unter das Scepter des Sultans geslellten Bevölkerungen verknüpft.
Die Cabinette fürchten, daß die Verlängerung dieses blutigen Conslicts und
der hartnäckige Widerstand der Pforte gegen freundschaftliche Ermahnungen
bei diesen Bevölkerungen die Hoffnung auf eine wirkliche Verbesserung ihrer
Lage gerade in dem Augenblick zerstören werde, wo sie sich an dieselbe am
stärksten klammern, und daß so im Orient die Krisis beschleunigt werde,
welche zu verhindern sie (die Mächte) bemüht sind. Sie glauben, die ver-
séhnlichsten Anstrengungen und die Rathschläge der Voraussicht erschöpsft zu
haben. Ohne auf die großmüthige Mission, welche ihr Gewissen ihnen auf-
erlegt, zu verzichten, erübrigt ihner nur, sich von ihrer Verantwortlichkeit zu
entbinden, indem sie die Pforte den Consequenzen ihrer Thaten überlassen.
Auf dem Wege, den sie gewählt hat und auf welchem sie verharrt, konnte
die türkische Regierung sicherlich nicht auf einen materiellen Beistand der
christlichen Mächte rechnen. Die Cabinette aber, nachdem sie vergebens ver-
sucht, diese Regierung aufzuklären, halten für ihre Pflicht, ihr zu erklären,
daß dieselbe von nun an vergebens deren moralische Unterstützung inmitlen
der Verlegenheiten aurufen würde, welche der Türkei aus ihrem geringen
Entgegenkommen für ihre Rathschläge erwachsen würden.
5. Nov. (Candia). Nachdem der Waffenstillstand mit dem 1. Nov.
abgelaufen ist, erläßt der Großvezier Aali eine Proclamation, durch
welche er zwar den Insurgenten, namentlich aber den fremden Ein-
dringlingen kriegsgerichtliche Bestrafung in Aussicht stellt, aber seine
Reformverheißungen aufrecht hält und daren unmittelbare Ausfüh-
rung in Aussicht stellt.
Diese Resormen beziehen sich keineswegs auf die Verwaltung allein, son-
dern auf die Gesammtheit des staatsbürgerlichen Lebens. Die Administratien