Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

                     Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.                      137 
Verfassungsrechtes in Frage gestellt, und insbesondere die staatsbürgerlichen 
Rechte der Nichtkatholiken des Landes gefährdet werden.“ Diese Behauptung 
ist aber ganz und gar unbegründet. Was das vaticanische Concil über 
die „Machtstellung des Oberhauptes der katholischen Kirche“ definirte, ist durchaus 
nichts Neues, durchaus nichts, was im Widerspruche stünde mit der von 
Christus seiner Kirche gegebenen Verfassung, sondern in den Worten, mit 
welchen Christus dem Petrus den Primat übertrug, vollkommen begründet. 
Was speciell das unfehlbare Lehramt des Papstes betrifft, so erklärt das 
Concil ausdrücklich: „Der heilige Geist ist den Nachfolgern des Petrus 
nicht um deßwillen verheißen, damit sie vermöge einer von ihm erhaltenen 
Offenbarung eine neue Lehre kundmachen, sondern damit sie unter dessen Bei- 
stand die durch die Apostel überlieferte Offenbarung oder Hinterlage des Glau- 
bens heilig bewahren und treu auslegen.“ Wie nun aber dennoch die Er- 
klärung, daß der Papst in Entscheidung von Glaubens- und Sittenlehren 
als oberster Lehrer der Kirche unfehlbar sei in Folge des der Kirche ver- 
heißenen göttlichen Beistandes, und daß diese Unfehlbarkeit sich nur auf die 
reine und unverfälschte Bewahrung und Auslegung der göttlichen Offenbarung 
erstrecke, durchaus aber nicht, um neue Dogmen zu schaffen verliehen sei — 
die inneren Verhältnisse der katholischen Kirche und die bisherigen Beziehungen 
zwischen Staat und Kirche eine durchgreifende Veränderung erfahren, Funda- 
mentalsätze des bayrischen Verfassungsrechtes in Frage gestellt und insbesonders 
die staatsbürgerlichen Rechte der Nichtkatholiken des Landes gefährdet werden 
sollen, und wie darin sogar „eine Gefahr für die politischen, und socialen 
Grundlagen des Staates" erkannt werden könne, — das vermögen die ehr- 
furchtsvollst Unterzeichneten durchaus nicht einzusehen. Weder die kirchliche 
Lehre an sich, noch die Haltung des heiligen Stuhles, noch jene der Bischöfe 
berechtigt zu solch' einer Unterstellung. Im Gegentheil müssen wir gegen 
solche Entstellungen und Behauptungen im Angesichte Gottes und vor der 
ganzen Welt entschiedene und feierliche Verwahrung einlegen. Nur die 
Feinde der Kirche und der Religion überhaupt sind es, welche den 
dogmatischen Constitutionen des Vaticanums eine solche gehässige Auslegung 
geben. Und wenn sich unter diesen auch manche „Gelehrte“ befinden, deren 
Urtheil der königlichen Staatsregierung als competent erschien, so hätte doch 
nicht vergessen werden sollen, daß die Zahl derjenigen Gelehrten, welche das 
Gegentheil behaupten, eine viel größere ist, und daß deren Wissen den Kennt- 
nissen ihrer Gegner wohl die Waage halten dürfte. Der gesammte Clerus 
steht mit verschwindenden und nicht nennenswerthen Ausnahmen treu zur 
Kirche und erblickt in den Beschlüssen des Vaticanums nichts weniger als 
eine Gefahr für den Staat. Sollte sein Urtheil den leidenschaftlichen Aus- 
führungen einiger Professoren gegenüber ganz ohne Bedeutung sein? Wohl 
sagt die königliche Staatsregierung: „Es fehlt jede Garantie, daß jenen viel- 
fachen in früheren Zeiten erschienenen päpstlichen Kundgebungen, welche sich in 
einschneidender Weise auf das weltliche Gebiet erstrecken, fortan niemals jenes 
Gewicht beigemessen wird, welches den Aussprüchen des ex cathedra lehrenden 
Papstes zukommen soll, ebenso wie dafür, daß künftig keine Entscheidungen 
dieser Art mehr erfolgen.“ Sie hat aber dabei offenbar aus den Augen 
verloren, daß den Entscheidungen des ex cathedra lehrenden Papstes nur 
dann die Prärogative der Unfehlbarkeit zukommt, wenn es sich um die Er- 
klärung und die reine und unverfälschte Bewahrung der geoffenbarten Glaubens- 
lehre handelt, und daß schon dadurch „päpstliche Kundgebungen, welche sich 
in einschneidender Weise auf das weltliche Gebiet erstrecken", von vorneherein 
ausgeschlossen sind. Jene Vorgänge und Vorkommnisse im Mittelalter, auf 
welche die königliche Staatsregierung offenbar hinweisen will, und die sie mit 
Besorgniß erfüllen, hatten ihren Grund nicht in dem unfehlbaren Lehramte 
des apostolischen Stuhles, sondern vielmehr in der Stellung, welche der Papst 
im europäischen Staatensysteme einnahm. Die staats- und völkerrechtlichen
	        
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