Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 137
Verfassungsrechtes in Frage gestellt, und insbesondere die staatsbürgerlichen
Rechte der Nichtkatholiken des Landes gefährdet werden.“ Diese Behauptung
ist aber ganz und gar unbegründet. Was das vaticanische Concil über
die „Machtstellung des Oberhauptes der katholischen Kirche“ definirte, ist durchaus
nichts Neues, durchaus nichts, was im Widerspruche stünde mit der von
Christus seiner Kirche gegebenen Verfassung, sondern in den Worten, mit
welchen Christus dem Petrus den Primat übertrug, vollkommen begründet.
Was speciell das unfehlbare Lehramt des Papstes betrifft, so erklärt das
Concil ausdrücklich: „Der heilige Geist ist den Nachfolgern des Petrus
nicht um deßwillen verheißen, damit sie vermöge einer von ihm erhaltenen
Offenbarung eine neue Lehre kundmachen, sondern damit sie unter dessen Bei-
stand die durch die Apostel überlieferte Offenbarung oder Hinterlage des Glau-
bens heilig bewahren und treu auslegen.“ Wie nun aber dennoch die Er-
klärung, daß der Papst in Entscheidung von Glaubens- und Sittenlehren
als oberster Lehrer der Kirche unfehlbar sei in Folge des der Kirche ver-
heißenen göttlichen Beistandes, und daß diese Unfehlbarkeit sich nur auf die
reine und unverfälschte Bewahrung und Auslegung der göttlichen Offenbarung
erstrecke, durchaus aber nicht, um neue Dogmen zu schaffen verliehen sei —
die inneren Verhältnisse der katholischen Kirche und die bisherigen Beziehungen
zwischen Staat und Kirche eine durchgreifende Veränderung erfahren, Funda-
mentalsätze des bayrischen Verfassungsrechtes in Frage gestellt und insbesonders
die staatsbürgerlichen Rechte der Nichtkatholiken des Landes gefährdet werden
sollen, und wie darin sogar „eine Gefahr für die politischen, und socialen
Grundlagen des Staates" erkannt werden könne, — das vermögen die ehr-
furchtsvollst Unterzeichneten durchaus nicht einzusehen. Weder die kirchliche
Lehre an sich, noch die Haltung des heiligen Stuhles, noch jene der Bischöfe
berechtigt zu solch' einer Unterstellung. Im Gegentheil müssen wir gegen
solche Entstellungen und Behauptungen im Angesichte Gottes und vor der
ganzen Welt entschiedene und feierliche Verwahrung einlegen. Nur die
Feinde der Kirche und der Religion überhaupt sind es, welche den
dogmatischen Constitutionen des Vaticanums eine solche gehässige Auslegung
geben. Und wenn sich unter diesen auch manche „Gelehrte“ befinden, deren
Urtheil der königlichen Staatsregierung als competent erschien, so hätte doch
nicht vergessen werden sollen, daß die Zahl derjenigen Gelehrten, welche das
Gegentheil behaupten, eine viel größere ist, und daß deren Wissen den Kennt-
nissen ihrer Gegner wohl die Waage halten dürfte. Der gesammte Clerus
steht mit verschwindenden und nicht nennenswerthen Ausnahmen treu zur
Kirche und erblickt in den Beschlüssen des Vaticanums nichts weniger als
eine Gefahr für den Staat. Sollte sein Urtheil den leidenschaftlichen Aus-
führungen einiger Professoren gegenüber ganz ohne Bedeutung sein? Wohl
sagt die königliche Staatsregierung: „Es fehlt jede Garantie, daß jenen viel-
fachen in früheren Zeiten erschienenen päpstlichen Kundgebungen, welche sich in
einschneidender Weise auf das weltliche Gebiet erstrecken, fortan niemals jenes
Gewicht beigemessen wird, welches den Aussprüchen des ex cathedra lehrenden
Papstes zukommen soll, ebenso wie dafür, daß künftig keine Entscheidungen
dieser Art mehr erfolgen.“ Sie hat aber dabei offenbar aus den Augen
verloren, daß den Entscheidungen des ex cathedra lehrenden Papstes nur
dann die Prärogative der Unfehlbarkeit zukommt, wenn es sich um die Er-
klärung und die reine und unverfälschte Bewahrung der geoffenbarten Glaubens-
lehre handelt, und daß schon dadurch „päpstliche Kundgebungen, welche sich
in einschneidender Weise auf das weltliche Gebiet erstrecken", von vorneherein
ausgeschlossen sind. Jene Vorgänge und Vorkommnisse im Mittelalter, auf
welche die königliche Staatsregierung offenbar hinweisen will, und die sie mit
Besorgniß erfüllen, hatten ihren Grund nicht in dem unfehlbaren Lehramte
des apostolischen Stuhles, sondern vielmehr in der Stellung, welche der Papst
im europäischen Staatensysteme einnahm. Die staats- und völkerrechtlichen