Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 159
und sittlichen Macht, wie die katholische Kirche selbst in den Augen ihrer
Gegner ist, gibt nichts sichereren Aufschluß, als ihre feierlichen Acte, als öffent-
liche Thatsachen. Solche feierliche Thaten des heiligen Stuhles in der Neuzeit
sind Concordate oder Verträge mit den Staaten des 19. Jahrhunderts.
Welches ist die Grundrichtung dieser Verträge? Ueberall finden wir in den-
selben ein Zurückgehen des Papstes auf das streng kirchliche Gebiet, ein Be-
schränken der alten kirchlichen Immunitäten oder Privilegien auf ein Maß,
das der modernen Rechtsgleichheit nirgends hinderlich ist; überall wird die
vigens ecclesiae disciplina zu Grunde gelegt. Noch mehr. Der heilige
Stuhl hat sich sogar durch diese seine feierlichen und öffentlichen Verträge
zum Festhalten an dem so geschaffenen Rechtszustande in der Weise ver-
pflichtet, daß er sich des Rechtes begeben, ihn einseitig zu ändern. Und der
heilige Stuhl ist es erfahrungsgemäß nicht, der die Concordate und völker-
rechtlichen Verträge bricht. Es besteht auch keine Thatsache in neuester Zeit,
welche zu dem Schlusse berechtigte, daß der heilige Stuhl eine andere Stellung
zu den Staaten nehmen wolle, als welche er bisher eingenommen hat. Die
Unfehlbarkeit seiner ex cathedra gegebenen Lehrentscheidungen berechtigt für-
wahr nicht dazu. Denn der apostolische Stuhl hat sie bekanntlich allezeit fest-
gehalten, und in der Kirche war sie überall thatsächlich angenommen und fast
überall öffentlich gelehrt. Der Mangel eines Concilsbeschlusses über diese
Unfehlbarkeit war es wahrlich nicht, was den apostolischen Stuhl veranlaßte,
die oben bezeichnete Stellung gegenüber den Staaten zu nehmen. Der Be-
schluß wird eben so wenig auf diese einen Einfluß haben. Sie wurde einge-
nommen, weil die Päpste, als Sions oberste Wächter bestellt, die Zeit wohl
verstehen. Sie wenden auf dieselbe wohl die alten und ewigen Principien
des göttlichen Rechtes an, aber sie wecken die alten Formen nicht auf, welche
in ganz anderer Zeit zur Geltung kamen. Wir protestiren daher gegen das
ebenso unwissentliche als ungerechte Verfahren, die Glaubensentscheidungen des
vaticanischen Concils als Attentate gegen die bestehenden deutschen Staatsver-
fassungen und insbesondere gegen jene Grundlagen derselben darzustellen,
welche die Gleichheit Aller vor dem bürgerlichen Gesetze mit sich bringen, und
durch Handhabung der von den Verhältnissen in Deutschland und anderswo
geforderten politischen Toleranz die staatliche und bürgerliche Gleichberechtigung
der Confessionen, sowie die Gewissens- und Cultus-Freiheit verbürgen. Wir
weisen vielmehr, gestützt auf diese Rechtsprincipien, die Versuche zurück, von
dem Vollgenusse der genannten Rechte die katholische Kirche und das katholische
Volk auszuschließen, alle Versuche, die durch das göttliche und Völker-Recht,
sowie durch das öffentliche Recht der deutschen Nation im Allgemeinen und
einzelner Staaten insbesondere garantirte Selbständigkeit und Freiheit der ka-
tholischen Kirche zu verkürzen."
An demselben Tage findet in München unter dem Vorsitze Döl-
linger's eine Versammlung kath. Gelehrten aus verschiedenen Theilen
Deutschlands statt, um über den weiteren Gang der Bewegung gegen
die vaticanischen Concilsbeschlüsse zu berathen.
30. Mai. (Elsaß-Lothringen.) Das Reichskanzleramt ordnet bereits
die ungesäumte Vollziehung der durch napoleonisches Decret auf den
6. und 7. Aug. 1870 bestimmten Municipalraths-Wahlen an, welche
in Folge des Einmarsches der deutschen Truppen in einem großen
Theile von Elsaß-Lothringen unterblieben waren. Diese Wahlen bilden
das erste Constructions-Moment zu der vom Reichskanzler erwähnten
Landesrepräsentation für das Elsaß.
31. „ Die Delegirtenversammlung des deutschen Protestantenvereins in
Wiesbaden beräth über die Maßregelungen einer Reihe evang. Geist-