Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

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                    Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
Ich erwarte keinen Vortheil von einer dauernden Einrichtung, welche dem 
Reichstage das Detail der Landesgesetzgebung übertragen würde, und ich würde 
es daneben für eine große Ungerechtigkeit den Elsäßern gegenüber betrachten, 
wenn alle übrigen deutschen Stämme ihre Angelegenheiten selbständig behandeln 
und sie allein davon ausgeschlossen sein und in stärkerer Weise bevormundet 
werden sollen von Abgeordneten, die sie nicht gewählt haben, als das bei den 
andern der Fall ist. (Bravo !) Das wäre eine Stellung und Behandlung, 
die dort, wo man eben noch empfindlich und reizbar ist, in hohem Grad un- 
angenehm berühren müßte. Es ist dieß vielleicht eine Ueberhebung oder 
Ueberschätzung; aber es ist meine Ansicht. Ich würde mich ja gern durch den 
Erfolg widerlegen lassen; aber ich glaube, daß einstweilen wir, die Regierungen, 
dieses jüngste Kind der deutschen Familie sorgfältiger und schonender behan- 
deln würden als die Reichstagsmitglieder. (Widerspruch links.) Es wird sich 
ja, sei es im Jahre 1873 oder 1874, ermitteln lassen, ob diese Befürchtung 
gerechtfertigt war. Es ist die Sorge für die kaum begonnene oder beginnende 
Krystallisation deutscher Empfindungen und deutscher Sympathieen, die mich 
veranlaßt, die Geschäfte dort möglichst lang ungestört in der Hand zu be- 
halten. Behandeln Sie die neuerworbenen Landestheile mit einer noch mütter- 
licheren, oder besser, väterlichen Sorgfalt und noch mehr schonend als wir, so 
würde ich mich freuen, aber ich fürchte, daß das nicht geschehen möchte, und 
ich möchte in diesem Sinne — lediglich im Interesse des Landes selbst — 
bei dem Wunsche beharren, daß Sie an dem längeren Termin von 1874 fest- 
halten, was Ihnen namentlich dann um so leichter möglich sein wird, wenn 
Sie noch vor diesem Zeitpunkt Elsässer Abgeordnete in Ihrer Mitte haben, 
die ja jeder Beschwerde gegen die angebliche Dictatur sofort hier Ausdruck zu 
geben und ihre Klagen an die größte Glocke in Deutschland zu hängen im 
Stande sein werden. Alles, was von der Dictatur gefürchtet wird und der 
Vorredner unheilvolles von der Dictatur sagt, das trifft die Zeitfrage gar 
nicht. Wenn das alles richtig ist, dann, m. HH., müßten Sie die Dictatur 
überhaupt gar nicht zulassen, dann müßten Sie die Sache heut in die Hand 
nehmen, und auch nicht 24 Stunden uns das gefährliche Instrument der 
Gesetzgebung in der Hand lassen; denn was für eine Menge von unheilvollen 
Gesetzen kann man nicht in 24 Stunden schaffen; ja wer auch nur eine Mi- 
nute die gesetzliche Souveränetät in der Hand hat, kann ein nicht weniger 
großes Unheil anrichten. Aber, wie ich schon neulich erwähnte, sehr viel gutes 
läßt sich in einer so kurzen Zeit nicht stiften. Also möchte ich bitten, die 
Frage doch aus dem Gesichtspunkt ins Auge zu fassen: ob Sie nicht den El- 
sässern Unrecht, Schaden will ich nicht einmal sagen, zufügen, wenn Sie zu 
früh mit dem Reichstagsregiment eintreten. Ich bin der Meinung, daß, wenn 
auch hier Elsäßer im Hause säßen, dennoch einstweilen die Landesgesetzgebung 
in den Händen des Kaisers und des Bundesrathes immer noch auf ein Jahr 
oder auf zwei verbleiben könne, weil da ein so künstliches Netz von Combi- 
nationen erforderlich ist bei den Aenderungen, die beabsichtigt werden können, 
daß das Verwerfen eines einzigen Paragraphen bei der parlamentarischen Dis- 
cussion das ganze verschiebt. Die Vielseitigkeit der Interessen, welche dort 
verletzt werden können, ist uns im gegenwärtigen Augenblick besonders deutlich 
geworden bei der Erwägung der Justizorganisation, wo es ja die Absicht ist 
— aus Gründen, die, wie ich glaube, Ihren Beifall haben würden, wenn 
es nicht zu weit führte, sie hier auseinander zu setzen — anstatt der vielen 
und kleineren Gerichte einigermaßen größere, die mehr Garantien nach ver- 
schiedenen Richtungen hin bieten, zu bilden, wodurch also die sämmtlichen 
Gewohnheiten und Einrichtungen der französischen Rechtspflege auf das schnei- 
denste berührt werden. Die französischen Anwälte, die Notare, die Huissiers, 
die Gerichtsvollzieher besitzen dort bekanntlich käufliche Aemter, in analogem 
Verhältnisse, wie bei uns die Concessionen der Apotheken käuflich sind, mit 
concurrirenden Staatsprüfungen. Die Interessen aller dieser Leute werden
	        
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