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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.
an den Discussionen des Reichstages sehr wohl betrachtet werden, ohne daß
deßhalb die Gesetzgebung im Elsaß selbst schon an alle die parlamentarischen
Formen gebunden würde, welche die Reichsverfassung mit sich brächte, sondern,
indem die Gesetzgebung allerdings dem unabhängigen Ermessen Sr. Maj. des
Kaisers und des Bundesrathes überlassen bliebe, obschon hier im Hause El-
sässer und Lothringer säßen.
Der Art. 3 des Gesetzes lautet demgemäß nunmehr: „Die Staatsgewalt
in Elsaß und Lothringen übt der Kaiser aus. Bis zum Eintritt der Wirk-
samkeit der Reichsverfassung ist der Kaiser bei Ausübung der Gesetzgebung
an die Zustimmung des Bundesraths und bei der Aufnahme von Anleihen
und Uebernahme von Garantieen für Elsaß und Lothringen, durch welche irgend
eine Belastung des Reichs herbeigeführt wird, auch an die Zustimmung des
Reichstages gebunden. Dem Reichstage wird für diese Zeit über die erlassenen Ge-
setze und allgemeinen Anordnungen und über den Fortgang der Verwaltung
jährlich Mittheilung gemacht. Nach Einführung der Reichsverfassung steht
bis zu anderweitiger Regelung durch Reichsgesetz das Recht der Gesetzgebung
auch in den der Reichsgesetzgebung in den Bundesstaaten nicht unterliegenden
Angelegenheiten dem Reiche zu.“
3. Juni. (Preußen.) Der Religionslehrer am Gymnasium zu Braunsberg,
Dr. Wollmann, lehnt die wiederholt verlangte Unterwerfung unter die neuen
Dogmen in einem Schreiben an den Bischof von Ermeland bündig ab:
„. . .Unsere kath. Kirche — das muß zugestanden werden, wenn man
nicht die Augen schließen und sich selber täuschen will — krankt an einem
großen Uebel: es ist die Uebertreibung des Autoritätsprincips, welche das Ge-
fühl der menschlichen Verantwortung, der persönlichen Würde und sittlichen
Freiheit untergräbt. In Folge dieses Systems weisen die Laien die Verant-
wortung des Glaubens an die fragliche Lehre den Geistlichen, die niederen
Geistlichen den Bischöfen, die Bischöfe der Minorität auf dem Concil der
Majorität, die Majorität dem Papste zu, welcher sich selbst der Verantwortung
überhoben glaubt. Dieses System hat in den romanischen Ländern jene
grauenvollen, religiös-sittlichen Zustände geschaffen, welche auch in dem katho-
lischen Theile Deutschlands herrschend werden müßten, wenn es nicht an dem
gesunden moralischen Sinn der Bevölkerung Widerstand fände. Wenn die
neue Lehre mit ihren Folgerungen in der katholischen Kirche jemals allgemein
durchgeführt werden könnte, so, glaube ich, müßte dieselbe ihre wesentlichste
Eigenschaft verlieren, nämlich die Katholicität; ihr Glaube, mit den Forde-
rungen der Vernunft und der Cultur unversöhnlich, aus der Wissenschaft und
dem Leben der Gebildeten verdrängt, müßte zum seelenlosen Paganismus
herabsinken. . ."
4. „ (Bayern.) Die Regierung läßt eine Reihe öfficiöser Artikel
„die vaticanischen Decrete und das bayr. Staatsrecht“ veröffentlichen,
welche darthun sollen, daß die bayr. Bischöfe zwar durch ihre trotz der
ausdrücklichen Verweigerung des kgl. Placet gemachte Verkündigung jener
Decrete allerdings unzweifelhaft einer flagranten Verletzung der Verfassung
sich schuldig gemacht hätten, daß aber das bayr. Staatsrecht absolut keine
Mittel an die Hand gebe, sie dafür zur Strafe zu ziehen. Inzwischen ist es
ein öffentliches Geheimniß, daß die Regierung bez. der kath. Frage gespalten
ist und daß hauptsächlich darum bisher behufs Lösung derselben nichts geschieht.
„ „ (Sachsen.) Die Landessynode beharrt auch bei der zweiten und
letzten Lesung des Gesetzentwurfs über die Errichtung eines evangelisch-
lutherischen Landesconsistoriums bei ihrer Opposition gegen das Cultus-
ministerium.