Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 167
liche Gefühl verletzen, abzuschwächen und dem Volke den Wahn beizubringen,
als ob sie alt und stets geglaubt und ganz unverfänglich seien. Wie früher,
so hat man auch wieder in dem jüngsten Hirtenbriefe sich Mühe gegeben, die
Unfehlbarkeit, von der die Decrete sprechen, als ein Vorrecht, welches dem
ganzen aus Papst und Bischöfen gemeinschaftlich bestehenden Lehramte zukomme,
erscheinen zu lassen. Dieß widerspricht aber dem klaren Wortlaut der Decrete:
ihm zufolge ist nur der Papst, und er aus sich selber, unfehlbar; nur er
empfängt den Beistand des hl. Geistes und ist in seinen Entscheidungen völlig
unabhängig von dem Urtheile der Bischöfe, deren Zustimmung zu jedem päpst-
lichen Ausspruch nun Sache der Pflicht geworden ist und nicht mehr ver-
weigert werden kann. Wenn die deutschen Bischöfe aber behaupten: die „Fülle
der Gewalt“, welche gemäß den vaticanischen Decreten dem Papst zukomme,
dürfe nicht als eine unbeschränkte oder Alles umfassende bezeichnet werden, weil
der Papst in deren Ausübung an die göttliche Lehre, Ordnung und Satzung
gebunden sei, so würde man mit dem gleichen Rechte sagen können, daß eine
unumschränkte despotische Gewalt überhaupt, selbst bei den Mohammedanern,
nicht existire. Denn auch der türkische Sultan oder der Schah von Persien
erkennt die Schranke des göttlichen Rechts und die Satzungen des Korans an.
Durch die neuen Decrete erhebt der Papst nicht nur den Anspruch: das ganze
Gebiet der Moral zu beherrschen, er bestimmt auch allein und mit unfehlbarer
Lehrautorität, was zu diesem Gebiete gehöre, was göttliches Recht sei, wie
dasselbe auszulegen und in Einzelfällen anzuwenden sei. In der Ausübung
dieser Gewalt ist der Papst an keine fremde Zustimmung gebunden, Niemand
auf Erden verantwortlich, Niemand darf ihm Einsprache thun; Jeder, wer er
auch sei, Fürst oder Taglöhner, Bischof oder Laie ist im Gewissen verpflichtet,
sich ihm unbedingt zu unterwerfen und jedes seiner Gebote ohne Widerrede zu
vollziehen. Wenn eine solche Gewalt nicht als eine unumschränkte und
despotische bezeichnet werden soll, so hat es niemals und nirgends in der
Welt eine unumschränkte und despotische Gewalt gegeben.
„2) Wir beharren in der festbegründeten Ueberzeugung, daß die vaticani-
schen Decrete eine ernste Gefahr für Staat und Gesellschaft bilden, daß sie
schlechthin unvereinbar sind mit den Gesetzen und Einrichtungen der gegen-
wärtigen Staaten, und daß wir durch die Annahme derselben in einen unlös-
baren Zwiespalt mit unsern politischen Pflichten und Eiden gerathen würden.
Vergeblich versuchen die Bischöfe die unleugbare Thatsache theils todtzuschweigen,
theils durch, willkürliche Auslegungen päpstlicher Bullen zu beseitigen, daß diese
Bullen und Entscheidungen alle politischen Gewalten der Willkür des päpstlichen
Stuhles unterwerfen und gerade jene Gesetze am Entschiedensten verdammen,
welche in der heutigen gesellschaftlichen Ordnung die unentbehrlichsten sind.
Die Bischöfe wissen sehr wohl, daß sie in Folge der vaticanischen Decrete nicht
das geringste Recht haben, päpstliche Erlasse, die neuesten oder früheren, durch
künstlich ersonnene Auslegungen zu beschränken, und daß die entgegengesetzte
Auslegung eines einzigen Jesuiten gerade so viel wiegt, als die von hundert
Bischöfen. Ueberdieß stehen auch bereits den Deutungen deutscher Bischöfe die
Auslegungen anderer Prälaten gegenüber, unter anderen des Erzbischofs
Manning von Westminster, welcher der päpstlichen Unfehlbarkeit den denkbar
weitesten Umfang zuerkennt. Und so halten wir uns auch trotz der bischöf-
lichen Rüge für wohlberechtigt, auch fernerhin die Unfehlbarkeit, welche dem
Papste und ihm allein, ohne jede Theilnahme Anderer, zukommen soll, eine
persönliche zu nennen; denn dieser Ausdruck ist hier vollkommen richtig und
entspricht dem allgemeinen Sprachgebrauche, wie man denn die Gewalt, welche
ein Monarch unabhängig von den anderen Staatsbehörden für sich besitzt und
übt, eine persönliche zu nennen pflegt; denn auch eine amtliche Prärogative
heißt dann mit Recht eine persönliche, wenn sie so fest und unzertrennlich an
die Person geknüpft ist, daß diese sich ihrer weder entäußern noch sie andern
übertragen kann. Wenn man, was die deutschen Bischöfe unterlassen, die Ver-