Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

246 
                     Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
Erbrechtes werde bei den verschiedenartigen Verhältnissen nicht ohne empfind- 
liche Schädigung berechtigter Interessen möglich sein. Die Annahme des An- 
trags werde auch die nachtheilige Folge haben, daß, obwohl das Zustande- 
kommen eines deutschen Civilgesetzbuches erst von einer entfernteren Zukunft 
zu erhoffen wäre, doch schon jetzt die Thätigkeit der Landesgesetzgebungen in 
allen Gebieten des Civilrechts lahm gelegt und die Abhilfe selbst empfindlicher 
Mißstände im Wege der Landesgesetzgebung faktisch unmöglich gemacht werden 
würde. In Betreff der Gerichtsorganisation werde allerdings die Einführung 
der Reichsprozeßgesetze die Aufstellung gewisser einheitlicher Normen zur Folge 
haben müssen, hiezu werde es aber einer Verfassungsänderung nicht bedürfen, 
wofern das nothwendige Maß nicht überschritten würde. Es gebe viele Punkte, 
welche über dieses Maß hinausfallen und doch in das Gebiet der Gerichts- 
Organisation gezogen werden könnten. Die Folge würde dann sein, daß von 
der den Bundesstaaten durch die Verfassung gewährleisteten Justizhoheit nichts 
übrig bliebe, ein um so bedenklicherer Zustand, als in diesen Staaten die 
Gerichtsorganisation im Allgemeinen mit der Organisation anderer staatlicher 
Institutionen verwachsen sei. Die Minderheit theilt sowohl den formellen 
Gesichtspunkt der Unangemessenheit der Verfassungsänderung schon im gegen- 
wärtigen Augenblick nicht, als sie auch gegen die materiellen Bedenken der 
Mehrheit Einspruch erhebt. Das Obligationen-Recht, wurde von ihr geltend 
gemacht, stehe mit dem übrigen bürgerlichen Rechte in einer so engen Ver- 
bindung, daß ohne Uebergriffe in das letztere eine gedeihliche Lösung der in 
Nr. 13 der Reichsgesetzgebung für einzelne Zweige des Obligationen-Rechts 
gestellten Aufgabe nicht möglich sei. Der Antrag gebe nur der Reichsgesetz- 
gebung die zur Lösung ihrer Aufgaben erforderliche Freiheit der Bewegung, 
ohne die besorgten Nachtheile praktisch herbeizuführen. Man könnte, um alle 
Bedenken zu beseitigen, der Reichsgesetzgebung z. B. zwar die Zuständigkeit für 
das bürgerliche Recht im Allgemeinen gewähren, von derselben aber gewisse 
Rechtsmaterien ausschließen, doch sei Dieß nicht nöthig, werde auch nicht zum 
Ziele führen. Eine Lahmlegung der Landesgesetzgebung durch die Ausdehnung 
der Competenz der Reichsgesetzgebung sei nicht zu fürchten. An eine Codifi- 
kation des bürgerlichen Rechts durch die Landesgesetzgebung sei bei dem Aus- 
druck dieser Besorgniß offenbar nicht gedacht, sondern nur an die Regelung 
einzelner Rechtsbeziehungen und Materien; an diese werde man aber im Falle 
wirklichen und dringenden Bedürfnisses immer gehen können. Das Gebiet 
der Gerichtsorganisation stehe schon jetzt dem Reiche zu, da ohne eine solche 
einheitliche Organisation eine gemeinsame Civilprozeßordnung oder Strafprozeß= 
ordnung gar nicht geschaffen werden könne. Schon um der Klarstellung der 
Frage wegen der Competenz willen sei aber auch die Aenderung der Nr. 13, 
wo der Gerichtsorganisation nicht gedacht ist, nothwendig. Auch das sei nicht 
zu befürchten, daß die Reichsgesetzgebung Über das für die Lösung ihrer Auf- 
gabe nöthige Maß hinausgehen werde. Es handle sich hier nicht um abstrakte 
Rechtssätze und deren Aenderung, sondern um Beseitigung oder Modifizirung 
konkreter Gestaltungen, wie der Gerichtsbehörden, deren große Bedeutung und 
weitreichender Zusammenhang mit anderen konkreten Beziehungen des Lebens 
die Bürgschaft ausreichender Kraft zum Widerstand gegen unberechtigte Ein- 
wirkung der Gesetzgebung gewähre. 
8. Dec. (Preußen.) Die Provinzialsynode von Schleswig-Holstein ge- 
nehmigt eine neue Synodalordnung im Wesentlichen in Ueberein- 
stimmung mit dem Regierungsentwurfe. Eine Amendirung derselben 
von liberaler Seite zu Herbeiführung eines entschiedenen Uebergewichtes 
des Laien-Elements (der übrigens der königliche Commissär nicht 
principiell widerspricht) wird von der Majorität der Synode ab- 
gewehrt.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.