Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

                   Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.                251 
Steuer. Wenn die liberale Partei jetzt mit ihren Verfassungsreformplänen 
durchdringt, werden wir bald das zufriedenste Völkchen im Herzen Deutsch- 
lands sein. Vor wenigen Jahren waren bei uns wenige, die sich nicht darnach 
sehnten, preußisch zu werden Hals über Kopf. Seit sich unsere finanziellen 
Verhättnisse so günstig gestaltet haben, sind der Annexionslustigen wenig 
geworden.“ 
21. Dec. (Preußen.) Abg.-Haus: Der Minister des Innern legt dem- 
selben den umgearbeiteten Entwurf einer Kreisordnung für die sechs 
östlichen Provinzen der Monarchie vor. 
       Der Minister begleitet die Vorlage mit folgender Darlegung: „Als der 
Ruf nach Umänderung der bestehenden Kreisverfassung anfing sich zu erheben, 
kamen namentlich drei Gesichtspunkte in Betracht: man wünschte eine andere 
Zusammensetzung der Kreistage, die Ablösung der Polizei vom Grundbesitz 
und eine größere Selbstverwaltung in den communalen Angelegenheiten. In 
dem vor zwei Jahren vorgelegten Gesetzentwurf suchte die Regierung diesen 
Wünschen und Bedürfnissen nach Kräften Rechnung zu tragen: er proponirte 
Ihnen eine andere Zusammensetzung des Kreistages, er sprach die Ablösung 
der Polizei vom Grundbesitz aus, schlug Ihnen vor, sie im Auftrage der 
Krone durch sogenannte Amtshauptleute verwalten zu lassen, und gewährte 
den Kreistagen und Kreisausschüssen ein großes Feld communaler Selbststän- 
digkeit. Die damalige Debatte im Landtag und die in Folge derselben im 
Lande lebhaft gewordenen Wünsche haben nun die Regierung bewogen, einen 
in zwei Punkten wesentlich abweichenden neuen Gesetzentwurf aufzustellen. Sie 
ist nämlich zu der Ueberzeugung gekommen, daß auch bei Festhaltung der 
Principien des vorigen Gesetzentwurfes in der Ausführung derselben Aender- 
ungen einzutreten haben, wenn sie auf Annahme des Gesetzes in beiden Häusern 
des Landtags Aussicht haben soll. Die erste Aenderung betrifft das Institut 
der Amtshauptleute. Die Proposition, die Ihnen damals gemacht wurde, 
war ein Experiment zwar nicht ins Blaue hinein, da es ja der Regierung 
möglich schien, dasselbe auszuführen, aber immerhin ein Experiment, dessen 
Ausfall zweifelhaft war. Die Eindrücke, welche die Regierung aus der De- 
batte und den Aeußerungen im Land entnommen, führten zu der Ueberzeugung 
daß das Institut der Amtshauptleute, so wie es damals gedacht war, nicht 
wohl ausführbar ist. Der Kreis der amtlichen Wirksamkeit, der Kreis der 
Attributionen, welcher den Amtshauptleuten zugedacht war, ist zu groß, um 
mit Sicherheit darauf rechnen zu können, daß man Persönlichkeiten finden 
werde, welche ihre Zeit und ihre Kräfte einer so umfangreichen Thätigkeit zu 
widmen gesonnen sind. Die Regierung schlägt Ihnen deshalb vor, das In- 
stitut der Amtshauptleute als solches fallen zu lassen, und statt dessen eine 
Institution ins Leben zu rufen, die in ihrer Basis etwas flüssiger ist als die 
der Amtshauptleute, nach der Richtung hin, daß man nicht eine Einwohner- 
zahl von 6—8000 Personen für die Bildung eines Amtsbezirks in Aussicht 
nimmt, sondern daß man die Bezirke mehr so abgränzt wie das locale Be- 
dürfniß es verlangt, und daß im ganzen die Bezirke kleiner werden. Sie 
schlägt Ihnen vor den Grundsatz auszusprechen: daß die Polizei im Namen 
des Königs geübt wird, daß für die Ausübung der Polizei Amtsbezirke ge- 
bildet werden, daß an der Spitze dieser Amtsbezirke Amtsvorsteher stehen 
sollen, welche die ihnen übertragenen Functionen als ein Ehrenamt ausüben, 
daß Gemeinden und Gutsbezirke, welche groß genug sind, um den polizeilichen 
Anforderungen aus eigenen Kräften genügen zu können, eigene Amtsbezirke 
bilden, und daß auf diese Weise, bei Festhaltung des früher ausgesprochenen 
Princips, mehr Garantie gewonnen wird für die Ausübung der durch das 
Gesetz den Amtsvorstehern zugedachten Funktionen hinreichende und geeignete 
Persönlichkeiten zu gewinnen. Die zweite Aenderung bezieht sich auf die 
Selbstverwaltung der Kreise, und es ist nach dieser Richtung hin ausgedehnter
	        
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