Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

Oesterreich-Angarn. 263 
den könnte ohne den ganzen öffentlichen Rechtszustand in ein Chaos aufzu- 
lösen, ist der Boden, auf welchem die Regierung steht. Auf diesem Boden 
wird sie allen berechtigten Wünschen entgegenkommen, und folgerichtig Versöh= 
nung vor allem dadurch anstreben, daß sie die Staatsgrundgesetze, namentlich 
Art. 19 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, 
welcher allen Volksstämmen gänzliche Gleichberechtigung gewährleistet, nicht 
bloß dem Wortlaute, sondern auch dem Geiste nach zur vollen Ausführung 
bringt. In allen diesbezüglichen Fragen herrscht unter den 
Mitgliedern der neuen Regierung bereits ein vollständiges, 
alle wesentlichen Einzelnheiten umfassendes grundsätzliches 
Einverständniß. Diesem zufolge wird die Regierung selbst durch eine 
Reihe von Vorlagen an den Reichsrath und, an die Landtage die Initiative 
ergreifen, um den Ländern jene mögliche Erweiterung der legislativen und 
administrativen Autonomie zuzuwenden, welche mit der nothwendigen, die ein- 
zelnen Länder selbst schützenden Reichseinheit vereinbarlich ist. Hiebei wird auch 
die directe Wahl in allen Landtagsgruppen, und die vielseitig verlangte weitere 
Ausdehnung des activen Wahlrechts von der Regierung vorgeschlagen werden. 
Auch über die Grundsätze, nach welchen die einzelnen Ressort-Ministerien zu 
verwalten, und über die großen Aufgaben, welche in einem jedem derselben zu 
lösen sind, besteht zwischen sämmtlichen Mitgliedern des jetzigen Ministeriums 
völlige Uebereinstimmung. Die Regierung unterläßt es jedoch, darüber schon 
jetzt vor der Oeffentlichkeit in Details einzugehen, da sie durch die That zu 
bewähren gedenkt was in einem Programme nur den Werth einer Ver- 
sprechung hätte. Groß ist die Aufgabe, welche von den neuen Rathgebern 
der Krone übernommen wird, und groß sind die Schwierigkeiten, welche ihnen 
gegenüberstehen. Diesen Schwierigkeiten werden sie jedoch jenen unbeugsamen 
Muth und jenen zähen Widerstand entgegensetzen, welcher dem guten Gewissen, 
klaren Wollen und der Integrität öffentlichen Handelns entspringt. Sie wissen, 
daß sie hiebei auf eine in Millionen Herzen lebende österreichische Gesinnung 
zählen dürfen, und sie selbst werden für die Erreichung ihres hohen Zieles 
von den rechtmäßigen Befugnissen der Regierungsgewalt vollsten Gebrauch zu 
machen, sowie die rückhaltslose und aufopferungsvolle Unterstützung aller Ver- 
waltungsorgane in Anspruch zu nehmen wissen. So wird es dem Zusammen- 
wirken der Organe der Regierung, der verfassungsmäßigen Vertretungskörper 
und der gesammten Bevölkerung, gelingen einen ebenso festen wie freien 
Verfassungsbau zu vollenden, welcher baldigst alle Völker der diesseitigen Reichs- 
hälfte zu froher und fruchtbarer staatlicher Arbeit glücklich und friedlich 
wiedervereinigt.“ 
Die öffentliche Meinung nimmt das neue Ministerium sofort mit dem 
äußersten Mißtrauen auf. Die Presse tuft es mit Hohn das Ministerium 
„Jirecek-Habietinek“ nach seinen beiden czechischen Mitgliedern. Als die Seele 
desselben wird übrigens Schäffle betrachtet und von dem rücksichtslosen Bureau- 
craten Hohenwart erwartet, daß er dem Reichsrath gegenüber die Rolle Bis- 
marcks in der Confliktszeit zu spielen versuchen werde, ohne indeß auch nur 
eine der großen Eigenschaften des deutschen Staatsmannes zu besitzen. 
Ein kaiserliches Handschreiben ertheilt für alle politischen und Preß- 
vergehen bis zu diesem Tage einschließlich eine Amnestie, die so zu 
sagen ausschließlich den böhmischen Czechen zu Gute kommt. 
10. Febr. (Oesterreich.) Der Reichsrath wird auf den 20. d. M. 
wieder einberufen. 
„ „ (Ungarn.) Ernennung des Prof. Pauler zum Cultus= und 
Unterrichtsminister. Derselbe gehört mehr oder weniger der ultramon- 
tanen Partei an.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.