Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

Trankreich. 957 
schiedener Umschwung der Stimmung statt, der dem Widerstande 
Gambetta's gegen die Pariser Regierung den Boden entzieht. 
4. Febr. Ein Decret der Pariser Regierung annullirt das Wahlausschließungs- 
decret Gambetta's und der Delegation in Bordeaux. Jules Simon 
verkündet es in Bordeaux durch Proclamation. Die Delegation in 
Bordeaux beschließt, vorerst auf ihrem Decret zu beharren und schickt 
eines ihrer Mitglieder nach Paris, um den wahren Sachverhalt zur 
Kenntniß der Pariser Regierung zu bringen. 
Proclamation Napoleon's aus Wilhelmshöhe: 
ü„Franzosen! Vom Glücke verlassen, habe ich seit meiner Gefangennahme jenes 
tiefe Stillschweigen beobachtet, welches die Trauer des Unglücks ist. Solange sich 
die Armeen gegenüberstanden, habe ich mich eines jeden Schrittes, jedes Wortes 
enthalten, welches Zwiespalt hätte hervorrufen können. Heute, bei dem tiefen Un- 
glücke des Landes, kann ich mich nicht länger in Schweigen hüllen, ohne gefühllos 
für seine Leiden zu erscheinen. In jenem Augenblick, als ich gezwungen war, 
mich gefangen zu geben, konnte ich in keine Verhandlungen über den Frieden 
eintreten. Da ich nicht frei war, so hätte es den Anschein gewonnen, als seien 
meine Entschließungen durch persönliche Rücksichtnahme dictirt. Ich überließ 
der Regentschaft, welche sich in Paris inmitten der Kammern befand, die Pflicht 
zu entscheiden, ob das Interesse der Nation die Fortsetzung des Kampfes er- 
heische. Trotz unerhörter Unglücksfälle war Frankreich nicht besiegt; unsere 
festen Plätze standen noch aufrecht, Paris war im Zustande der Vertheidigung, 
der weiteren Ausdehnung der Unglücksfälle konnte Einhalt gethan werden. 
Aber während alle Blicke gegen den Feind gerichtet waren, brach in Paris 
die Insurrection aus. Die Volksvertretung wurde vergewaltigt, die Kaiserin 
bedroht. Eine Regierung installirte sich durch Ueberraschung auf dem Stadt- 
haus und das Kaiserreich, welchem die Nation so eben zum drittenmal ihre 
Zustimmung gegeben hatte, wurde durch diejenigen gestürzt, welche berufen 
waren, es zu dertheidigen. Meinen gerechten Unmuth unterdrückend, rief ich 
mir zu: Was liegt an der Dynastie, wenn das Vaterland gerettet werden 
kann? und anstatt gegen die Verletzung des Rechts zu protestiren, richtete ich 
meinen heißesten Wunsch auf den Erfolg der nationalen Vertheidigung. Die 
patriotische Hingebung, welche alle Classen, alle Parteien bewiesen, erfüllte mich 
mit Bewunderung. Aber jetzt, wo der Kampf unterbrochen und die Haupt- 
stadt nach heldenmüthigem Widerstand gefallen ist, wo jede vernünftige Aussicht 
auf Sieg verschwunden ist, jetzt ist es Zeit von jenen, welche die Gewalt usurpirt 
haben, Rechenschaft zu verlangen für das unnöthig vergossene Blut, für die 
aufgehäuften Ruinen, für die verschleuderten Hilfsquellen des Landes. Das 
Schicksal Frankreichs kann nicht einer Regierung ohne Mandat überlassen wer- 
den, welche, indem sie die Verwaltung desorganisirte, nicht eine einzige jener 
Autoritäten bestehen ließ, welche ihren Ursprung dem allgemeinen Stimmrecht 
verdankten. Eine Nation kann einer Regierung nicht lange Gehorsam leisten, 
welche kein Recht hat zu befehlen. Die Ordnung, das Vertrauen, ein sicherer 
Friede werden nur dann erzielt, wenn das Volk befragt worden ist 
über jene Regierung, welche am meisten befähigt ist, das Vaterland von seinen 
Leiden zu befreien. Unter den feierlichen Umständen, in welchen wir uns be- 
befinden, ist es nöthig, daß Frankreich eins sei in seinen Bestrebungen, 
Wünschen und Entschließungen. Dieß ist das Ziel, welches alle guten Bürger 
bestrebt sein müssen zu erreichen. Was mich anbelangt, gebeugt durch so viele 
Ungerechtigkeiten und bittere Enttäuschungen, so will ich nicht jene Rechte in 
Anspruch nehmen, welche ihr viermal in zwanzig Jahren mir freiwillig über- 
truget. Angesichts unsers Unglücks ist kein Raum für persönlichen Ehrgeiz; 
aber solange nicht das Volk in regelmäßigen Wahlen versammelt seinen
	        
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