Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

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Malien. 
unser Volk sich nach einer hundertjährigen Trennung zum ersten Male in der 
Person seiner Vertreter versammelt findet, hier, wo wir das Vaterland unserer 
Wünsche wieder erkennen, spricht Alles zu uns von Größe. Gleichzeitig er- 
innert uns auch Alles an unsere Pflichten. Die Freude, die wir empfinden, 
wird uns diese nicht vergessen lassen. Wir haben unsern Platz in der Welt 
durch die Vertheidigung der Rechte der Nation wieder gewonnen. Heute, da 
die nationale Einheit vollendet ist und eine neue Periode für Italien beginnt, 
werden wir unseren Grundsätzen treu bleiben. Durch die Freiheit wiederge- 
boren, werden wir in der Freiheit und Ordnung das Geheimniß der Stärke 
und der Versöhnung suchen. Wir haben die Trennung des Staates 
und der Kirche verkündet. Da wir die unbedingte Unabhängigkeit der geist- 
lichen Autorität anerkannt haben, können wir überzeugt sein, daß Rom, die 
Hauptstadt Italiens, fortfahren werde, der friedliche und geachtete Sitz des 
Papstthums zu sein. Auf diese Weise werden wir dahin gelangen, die Ge- 
wissen zu beruhigen. Derart haben wir durch die Festigkeit unserer Ent- 
schließungen und durch die Mäßigung unserer Handlungen die nationale 
Einigung beendigen können, ohne unsere freundschaftlichen Beziehungen zu den 
fremden Mächten zu beeinträchtigen. Die Gesetzentwürfe, die Ihnen zur Re- 
gelung der Verhältnisse der geistlichen Körperschaften vorgelegt werden 
sollen, werden den Grundsätzen der Freiheit entsprechend sein. Sie werden 
nur die juristische Persönlichkeit und den Modus des Besitzthums berühren, 
indem sie die religiösen Einrichtungen, welche einen Theil in der Regierung 
der allgemeinen Kirche haben, unversehrt lassen. Die volkswirthschaftlichen und 
finanziellen Angelegenheiten erheischen Ihre ganze Fürsorge. Jetzt, da Italien 
constituirt ist, muß man daran denken, es durch Wiederherstellung sein er 
Finanzen glücklich zu machen. Wir werden nur durch Beharrlichkeit in den 
Tugenden dahin gelangen, die die Quelle unserer nationalen Wiedergeburt 
gewesen sind. Gute Finanzen werden uns die Mittel bieten, unsere militärische 
Organisation zu verstärken. Meine heißesten Wünsche sind für den Frieden, 
und nichts läßt uns befürchten, daß er gestört werden könnte. Aber die Or- 
ganisation der Armee und der Marine, die Erneuerung der Waffen, die 
Bauwerke zu Zwecken der Vertheidigung des nationalen Gebietes erheischen 
lange und eindringliche Studien. Die Zukunft könnte strenge Rechenschaft wegen 
unserer Nachlässigkeit von uns fordern. Sie werden die Ihnen zu diesem 
Zwecke von meiner Regierung zu unterbreitenden Maßnahmen prüfen. Andere 
wichtige Vorschläge in Betreff der Selbständigkeit der Gemeinden und der Pro- 
vinzen, der administrativen Dezentralisation ohne Beeinträchtigung der Macht 
des Staats, in Betreff der Geschwornen-Einrichtung, sowie wegen Erzielung 
einer größeren Gleichförmigkeit und Wirksamkeit der Gerichtsorganisation, 
werden Ihnen gemacht werden. Auf diese Weise werden wir zur Befestigung 
der öffentlichen Sicherheit gelangen, ohne welche die Freiheit selbst nicht ge- 
fahrlos ist. Meine Herren Senatoren, meine Herren Abgeordneten! Ein 
weites Feld der Thätigkeit eröffnet sich Ihnen. Die heute vollendete nationale 
Einheit wird, ich hoffe es, zur Wirkung haben, die Kämpfe der Parteien, deren 
Wettstreit in Hinkunft keinen andern Zweck als die Entwicklung der produktiven 
Kräfte der Nation haben wird, minder leidenschaftlich zu gestalten. Ich freue 
mich, zu sehen, daß unsere Bevölkerung bereits unzweideutige Beweise ihrer 
Liebe zur Arbeit gibt. Das volkswirthschaftliche Erwachen folgt 
dem politischen Erwachen bald nach. Die Creditinstitute vermehren 
sich ebenso, wie die Handelsgesellschaften, die Kunst= und Industrie-Ausstellungen 
und die Gelehrtencongresse. Sie und ich müssen diese fruchtbare Bewegung 
begünstigen, indem wir dem gewerblichen und wissenschaftlichen Unterrichte 
größere Ausdehnung und Ausgiebigkeit geben und dem Handel neue Verkehrs- 
und Absatzwege eröffnen. Die Durchstechung des Mont-Cenis ist beendigt, 
man ist im Begriffe, die Durchbrechung des St. Gotthard zu unternehmen. 
Der durch Italien gehende Handelsweg, welcher nach Brindisi führt und Europa
	        
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