Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

474 Peilagen. 
Artikel 9. Der gegenwärtige Vertrag soll ratificirt und die Ratificationen 
sollen innerhalb sechs Wochen oder früher, wenn möglich, ausgewechselt werden. 
Z Unterzeichnet sind die Bevollmächtigten Englands, Preußens, Oesterreichs, Frank- 
reichs, Rußlands, Italiens und der Türkei. 
Die gleichzeitig verössentlichten Protokolle der Conferenz ergeben folgenden 
Umriß von dem Gange der Conferenzverhandlungen: · · 
Nach wiederholter Verschiebung trat die Conferenz am 17. Januar zum ersten- 
male zusammen, und außer der Wahl eines Vorsitzenden, welche auf den Antrag des 
türkischen Vertreters, Musurus Pascha, auf Lord Granville fiel, war das Haupter- 
gebniß dieser ersten Sitzung die gemeinschaftliche Erklärung der sämmtlichen Ver- 
treter, mit Einschluß also des russischen, daß eine Macht sich niemals von den Be- 
dingungen eines Vertrages befreien dürfe, es sei denn mit Zustimmung der contrahi- 
renden Parteien und vermittelst eines freundschaftlichen Abkommens. Was der Werth 
dieser Erklärung angesichts der Thatsache ist, daß die sämmtlichen Mächte die Confe- 
renz mit dem vorgefaßten Entschlusse beschickt hatten, Rußlands Forderungen in Er- 
wägung zu ziehen, steht dahin, genug, daß die Erklärung in aller Form zu Papier 
genommen wurde und daß keine der Mächte — Deutschland etwa ausgenommen — 
den vorgefaßten Entschluß hatte, Rußlands Forderungen zu bewilligen. Nachdem 
Baron Brunnow in einer längeren Auseinandersetzung die Gründe aufgeführt, welche 
den Czar bewogen, eine Revision des Pariser Vertrages von 1856 zu verlangen, 
stellte Musurus Pascha im Namen der Pforte die Zulänglichkeit dieser Gründe in 
Abrede und gab einen Protest zu Papier, so stark, wie er sich nur mit der Bereit- 
willigkeit, die Concessionen zu machen, um einen Krieg zu vermeiden, vertrug. Die 
Pforte, so sagte er, sei mit dem Vertrage durchaus zufrieden. „Sie legt seiner Auf- 
rechterhaltung große Bedeutung bei, und so sehr sie auch wünschen möge, Alles aus 
dem Wege zu räumen, was etwa zu einem Gefühle der Unbehaglichkeit in den Ge- 
fühlen der Freundlichkeit und des gegenseitigen Vertrauens zwischen zwei mächtigen 
Nachbarstaaten führen könnte, so kann sie doch nur bedauern, daß die kaiserlich russische 
Regierung in der Aufrechterhaltung dieser Bedingungen ein Hinderniß für die Con- 
solidation der Ruhe im Orient und einen Grund zur Gereiztheit erblickt, welcher 
dazu dienen würde, das Nationalgefühl Rußlands tief zu verletzen.“ Auch wisse er, 
daß England stets die Ansichten der Türkei bezüglich der Neutralisirung des Schwarzen 
Meeres getheilt habe; da indessen andere Mächte vielleicht anderer Ansicht sein könnten, 
und da Deutschland die Ansichten Nußlands unterstütze, sei die Pforte bereit, nachzu- 
geben. Darauf gaben dann auch die anderen Bevollmächtigten ihre Zustimmung zu 
dem Vorschlage, Rußlands Forderungen in Erwägung zu ziehen, begründeten aber 
diese Zustimmung auf das Einverständniß des türkischen Botschafters mit dem Princip 
einer Revision. 
Die Gründe, auf welche die russische Forderung einer Revision fußte, lassen 
sich in wenigen Worten abthun. Es sind genau die nämlichen, welche Rußland bei 
der Wiener Conferenz während des Krimkrieges gegen die Neutralisirung des Schwarzen 
Meeres vorgebracht hatte. Die Unabhängigkeit der Staaten um das Schwarze Meer 
sei durch die Neutralisation des letzteren angegriffen; die Durchführung der Neutrali- 
sation auf ewige Zeiten sei unsinnig und unmöglich; die durch den Pariser Vertrag 
auferlegten Beschränkungen seien — anstatt den Frieden im Oriente zu befestigemn — 
eine Quelle beständiger Gereiztheit und werde das Nationalgefühl Rußlands aufs 
tiefste verletzt. Die Erwiderung des türkischen Vertreters auf diese Gründe ging dahin, 
daß sich zahlreiche Beispiele von Staaten anführen ließen, welche sich besondere Ein- 
schränkungen willig gefallen ließen, um die Eintracht aufrechtzuerhalten; daß der 
Vertrag zu neu sei, um den Einwendungen gegen die Dauer „auf ewige Zeiten“ 
Kraft zu geben, und daß er bisher nicht wenig dazu beigetragen habe, die Aufrecht- 
erhaltung des Friedens im Oriente zu fördern. 
Nichtsdestoweniger wurde die Ausmerzung des Paragraphs 11 beschlossen, und 
von jetzt ab drehten die Verhandlungen sich hauptsächlich um die Abfassung der zu 
substituirenden Clausel, Es wurde vorgeschlagen, die Schließung des Bosporus und
	        
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