Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

478 Mebersicht der Ereignisse des Jahres 1871. 
längere Zeit belagert werden. Die Einen meinten, die Stadt würde sich 
keine 14 Tage halten, die Andern sprachen von 30 Tagen, er selber glaubte, 
sie würde nicht länger als 60 Tage widerstehen. 
So wie sich Trochu in diesen Worten gibt, ist er immer und überall 
gewesen: naiv, wortreich, sentimental und ohne Glauben an Gelingen, mithin 
eine Persönlichkeit wie sie unglücklicher gar nicht gestellt sein konnte, als an 
die Spitze eines Volkes, das in Zeiten tiefer Erregung zwischen Schwachkopf 
und Verräther kein Drittes kennt. 
Riesenhaft aber, alles jemals Erlebte und Erhörte weit überragend, 
waren in der That die Verhältnisse, welche die Belagerung dieser Weltstadt 
geschaffen. Die bis zum Aushungern vollständige Einschließung dieses sechs 
Meilen Raum und 2 Millionen Bevölkerung umfassenden Kreises von Festungen 
durch ein deutsches Heer, das nicht viel über 200,000 Mann betrug, war 
eine ebenso erstaunliche Thatsache, als der Widerstand, den die Belagerten 
fast vier Monate lang, weit über die Berechnungen von Freund und Feind 
hinaus, geleistet haben. Im Laufe dieser Monate hat Frankreich Heeres- 
massen unter Waffen gestellt, wie sie in solchem Umfang gleichzeitig niemals 
unter französischen Fahnen gesehen worden sind. Die Zahl der Streiter in 
Paris wuchs allmälig bis auf eine halbe Million, die Gesammtzahl der 
Bewaffneten, die in den Provinzen durch Gambetta aufgestürmt wurden, 
kann auf nahezu eine ganze Million veranschlagt werden. Die Gesammtheit 
der deutschen Heere, die in Frankreich operirten, hat kaum mehr als ein 
Drittel von dieser ungeheuren Ziffer betragen und dennoch war Alles Ringen 
nur ein einziges hoffnungsloses Verbluten. Das lag nicht bloß an der 
Genialität des deutschen Generalstabes, an der Ueberlegenheit deutscher 
Manneszucht und Kriegskunst, das lag, von zahllosen Mißgriffen im Ein- 
zelnen abgesehen, insbesondere an zwei großen Fehlern der französischen 
Kriegsleitung, ohne die vieles anders hätte kommen können, wenn auch die 
Schlußentscheidung kaum mehr abzuwenden war. Den einen Fehler hat 
General Trochu, den andern Gambetta zu verantworten. 
Der jugendliche Advokat Léon Gambetta aus Versailles war die Seele 
des französischen Volkskriegs, der im October von Tours aus organisirt 
ward. Seit zwei Generationen wächst das junge Frankreich in dem Aber- 
glauben auf, daß die Republik von 1793 sich allein durch eigne Kraft, 
durch die levée en masse im Kampf gegen ganz Europa behauptet habe. 
Von dem Hader der verbündeten Mächte um Polen, der ihre gesammte 
Kriegführung im Westen lähmte, der im Sommer 1793 das Stocken des
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.