Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

                   Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.                    47 
die Geldfrage als Alles entscheidend in den Vordergrund. Aber er weiß, 
welche Lasten das bayerische Volk jetzt schon mit Mühe trägt, und vermag 
sehr wohl zu würdigen, welch dringende Rücksichten die Regierung geleitet 
haben, wenn sie, nach der Versicherung des Hrn. v. Lutz, noch zur Zeit der 
September-Verhandlungen „„mit ganz entschiedenem Gewichte die Unmöglichkeit 
betonte, ein so hohes Militärbudget für das Land zu übernehmen, wie es die 
norddeutsche Bundesverfassung den einzelnen Staaten auflegt.““ Wenn aber 
Se. Exc. uns darauf vertröstet, das bayerische Volk habe nun das Recht, 
durch seine Abgeordneten im Reichstag den Militärlasten gegenüber seine 
Stimme zu erheben, dann erscheint Dieß leider gegenüber der Thatsache, daß 
bei den Versailler Verhandlungen eine wesentliche Aenderung der Art. 5, 37, 
59, 60 (letztere beide enthalten die Grundlagen der Militärorganisation) nicht 
erzielt werden konnte, nur als ein sehr schwacher Trost. Ein schweres Präjudiz 
ergibt sich aber auch für die constitutionellen Rechte der Einzelländer aus einer 
fast befremdenden Lücke, welche bei dem Art. 78 und in der Deklaration 
bezüglich der besonderen Rechte im Verhältnisse einzelner Bundesstaaten, ins- 
besondere Bayerns, zur Gesammtheit in die Augen fällt. Die letztgedachten 
Bestimmungen können nur mit Zustimmung der „berechtigten Bundesstaaten“ 
abgeändert werden. Allein nirgends ist festgestellt, ob und wie weit die frag- 
lichen Voten der Bundesrathsmitglieder an die Zustimmung der gesetzgebenden 
Faktoren der Einzelländer gebunden sein sollen oder nicht.  .  .  . Eine ausdrück- 
liche Festsetzung über das Verhältniß der Bundesrathsbeschlüsse zu den constitu- 
tionellen Rechten der Einzelländer wäre aber um so mehr erforderlich gewesen, 
als vor wenig mehr als einem Jahre sowohl im preußischen Abgeordneten- 
hause als im preußischen Herrenhause die Bundes= und resp. preußische Regier- 
ung sich für eine Auffassung und Interpretation des früheren Art. 78 ent- 
schieden hat, welche das constitutionelle Recht der Einzelländer dem Belieben 
der im Bundesrathe vertretenen Regierungen, der eigenen sowohl als der 
fremden, wehrlos preisgeben würde.  .  .  . Allein schon der Art. 7 in seinen 
Zusammenhängen und seinen Consequenzen müßte die Annahme der Verfassung 
für Bayern schlechthin unthunlich machen. Referent würde sich freuen, wenn 
sich die Möglichkeit zeigen würde, durch neue Verhandlungen diejenigen wesent- 
lichen Aenderungen zu erzielen, welche geeignet wären, sowohl im Allgemeinen 
den Bestimmungen der Bundesverfassung die Hinneigung zum Einheitsstaate 
zu benehmen, als insbesondere die Artikel 7, 5, 37, 59, 60, 78 in der ange- 
deuteten Richtung zu korrigiren, beziehungsweise auszumerzen. Referent täuscht 
sich darüber nicht, daß auch in diesem Falle der Beitritt Bayerns nicht unbe- 
denklich wäre. Die Sicherheit in jedem Bundesverhältnisse, in das wir ein- 
treten könnten, hat aufgehört, seitdem nicht mehr zwei große Mächte in dem 
Verbande sich das Gleichgewicht halten. Ueberdieß haben die Annexionen von 
1866 nicht nur das natürliche Uebergewicht Preußens sehr vermehrt, sondern 
auch den militärstaatlichen Character dieser Macht entschiedener als je aus- 
geprägt. Es ist und bleibt ein gewaltiger Militärstaat nicht bloß der ge- 
schriebenen Verfassung nach, sondern mehr noch nach seiner durch Generationen 
eingewohnten Lebensform, mit dem wir das engste Bundesverhältniß eingehen 
sollen; und welche Folgen schon die bloß völkerrechtliche Verbindung des 
Allianzvertrages für das Selbständigkeitsgefühl unseres Landes gehabt hat, 
das zeigen die Verhandlungen in Versailles und München. Trotzdem würde 
Referent den Umständen Rechnung tragen und Modificationen in dem vorhin 
bezeichneten Sinne gerne zur Annahme empfehlen. Aber seine Hoffnung ist 
sehr gering, daß die Regierung den Weg neuer Verhandlungen auf Grund 
der angedeuteten Modificationen sollte betreten wollen oder können. Wenn 
nicht Alles täuscht, so sind die Vertreter der Regierung in Versailles vor die 
unabänderliche Alternative gestellt worden, entweder in den Bund einzutreten, 
wie er jetzt verfaßt ist, oder draußen zu bleiben. Es bleibt demnach nichts 
übrig, als den Wunsch auszusprechen, die Regierung möge sich in die Lage
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.