556 Uebersicht der Ereignisse des Tahres 1871.
das Deutschthum in den Ostseeprovinzen kräftig weiterzuarbeiten, während sein
Kaiser jede Gelegenheit benutzte, gegen das neue deutsche Reich, seinen Be—
herrscher und seine siegreichen Heerführer die allerwärmsten Sympathieen
kundzugeben. Zum Georgs-Ordensfest zu St. Petersburg hatte er den
Prinzen Friedrich Carl, den Prinzen August von Württemberg, den Grafen
Moltke, die Generale v. Alvensleben, v. Budritzki, v. Werder u. A. einge-
laden und die Art wie er sie ehrte und begrüßte, gestaltete dies Ordensfest
zu einer deutschen Siegesfeier in der Hauptstadt des russischen Reichs. Wie
ein politisches Programm ersten Ranges ward der Trinkspruch aufgefaßt,
en der Kaiser Alexander II. am 8. Dec. inmitten der Nitterschaft des St.
Georg ausbrachte: „Auf das Wohl des Kaisers Wilhelm, des ältesten Ordens-
ritters, und auf das Wohl der anderen Ordensritter seiner Armee, deren
würdige Repräsentanten heute in unserer Mitte zu sehen mich mit Stolz er-
füllt. Ich wünsche und hoffe, daß die innige Freundschaft, die uns ver-
bindet, in künftigen Geschlechtern fortdauern wird, ebenso wie die Waffen-
brüderschaft beider Armeen, welche aus unvergeßlicher Zeit datirt. Ich sehe
darin die beste Garantie für den Frieden und die gesetzliche Ordnung in
Europa.“
Daß der heftige Stoß, den Rußlands Vorgehen in der Pontusfrage
dem Recht der Verträge beigebracht, einstweilen ohne ernstere Folgen für den
europäischen Frieden geblieben war, das dankte man in erster Reihe der be-
sonnenen Haltung, welche die Türkei in der ganzen Sache beobachtete. Das
Verdienst dieser Haltung aber kam dem Großvezier Aali Pascha zu Gute
und dessen am 6. Sept. erfolgter Tod war darum nicht bloß für die Türkei
ein großer Verlust. Nächst seinem bereits im Februar 1869 verstorbenen
Freund Fuad Pascha war er der bedeutendste Staatsmann, den die heutige
Türkei hervorgebracht. Ihn, den Sohn eines Thorwärters, wie jenen, den
Sohn eines Kadi, hatte Reschid Pascha aus dem Staube hervorgezogen, als
er in den ersten Tagen des Sultans Abdul Medschid Talente brauchte, um
durch die greuelvollen Wirren hindurchzusteuern, welche der Tod des Sultans
Mahmud II. und die Niederlage von Nisib (1839 24. Juni) hinterlassen.
Seit Anfang der fünfziger Jahre haben Fuad und Aali Pascha wie zwei
Dioskuren die Geschicke der Türkei unter den schwierigsten Umständen ge-
lenkt; der eine feurig, aufbrausend, genial, der andre still, bedächtig, aber
fest im Wollen und ebenso scharf blickend als kaltblütig im Urtheil, im münd-
lichen und schriftlichen Ausdruck ihrer Gedanken, der Eine ein Meister wie
der Andre. Die Oktoberdepesche des Fürsten Gortschakoff hatte in Wien