Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 85
es nicht zu einer ordentlichen und eindringenden Prüfung kommen ließ. Sie
würde allerdings sehr bedenkliche und mißliebige Dinge zu Tage gefördert
haben, aber sie hätte auch die Kirche vor einer Verwirrung, welche auch Ihnen
beklagenswerth erscheint, bewahrt. Wenn Sie nun gleichwohl behaupten, daß
die vatikanische Versammlung völlig frei gewesen sei, so nehmen Sie wohl
das Wort „frei“ in einem Sinne, den man sonst in theologischen Kreisen nicht
damit verbindet. Theologisch frei ist ein Concil nur dann, wenn freie Unter-
suchung und Erörterung aller Bedenken und Schwierigkeiten stattgefunden
hat, wenn die Einwürfe zugelassen, und nach den Regeln, welche die Ermit-
telung der Tradition erheischt, geprüft worden sind. Daß hiezu auch nicht
der bescheidenste Anfang gemacht worden, daß in der That der immensen
Majorität der Bischöfe aus den romanischen Ländern entweder der Wille oder
die Einsicht mangelte, um Wahrheit und Lüge, Rechtes und Falsches gehörig
von einander zu sondern, das beweisen die Schriften, die in Italien erschienen
und in Rom vertheilt wurden, wie z. B. die des Dominicaners und Bischofs
von Mondovi, Ghilardi; das beweist ferner die Thatsache, daß Hunderte dieser
Bischöfe sich auf die unantastbare Autorität des Alfons Liguori stützen konnten,
ohne zu erröthen. Bekanntlich haben die Jesuiten, als sie den Plan faßten,
den päpstlichen Absolutismus in Kirche und Staat, in Lehre und Verwaltung
zum Glaubenssatz erheben zu lassen, das sogenannte sacrificio dell’ intelletto
erfunden, und ihre Anhänger und Jünger versichert, viele und darunter sogar
Bischöfe auch wirklich überredet: die schönste Gott dargebrachte Huldigung und
der edelste christliche Heroismus bestehe darin, daß der Mensch, dem eigenen
Geisteslichte der selbsterworbenen Erkenntniß und gewonnenen Einsicht entsagend,
sich mit blindem Glauben dem untrüglichen päpstlichen Magisterium, als der
einzigen sicheren Quelle religiöser Erkenntniß, in die Arme werfe. Es ist
diesem Orden allerdings in weitem Umfange gelungen, die Geistesträgheit in
den Augen Unzähliger zur Würde eines religiös verdienstlichen Opfers zu er-
heben, und mitunter selbst Männer, welche vermöge ihrer sonstigen Bildung
zur Anstellung der geschichtlichen Prüfung wohl befähigt wären, zum Verzicht
auf dieselbe zu bewegen. Aber die deutschen Bischöfe sind doch, soweit sich hier
nach ihren Hirtenbriefen urtheilen läßt, noch nicht bis zu dieser Stufe der
Verblendung herabgestiegen. Sie lassen auch der menschlichen Wissenschaft, der
menschlichen Prüfung und Forschung noch ihr Recht und ihre Wirkungssphäre.
Sie berufen sich selber auf die Geschichte, wie eben auch der unter Ihrem
Namen erschienene Hirtenbrief gethan.
„In dem mir eben zugekommenen Pastoralschreiben des Herrn Bischofs
Lothar v. Kübel in Freiburg heißt es S. 9: „Bekommt der Papst neue
Offenbarungen? Kann er neue Glaubensartikel machen? Gewiß nicht. Er
kann nur erklären, daß eine Lehre in der heiligen Schrift und Ueberlieferung
enthalten, also von Gott geoffenbart sei, und deßhalb von allen geglaubt
werden müsse.“ Ich zweifle nicht, daß Ew. Exc. und die übrigen deutschen
Bischöfe mit diesen Worten einverstanden sind. Dann aber handelt es sich in
der gegenwärtigen verworrenen Lage der Kirche um eine rein geschichtliche
Frage, welche denn auch einzig mit den hiefür zu Gebote stehenden Mitteln und
nach den Regeln, welche für jede historische Forschung, jede Ermittelung ver-
gangener, also der Geschichte angehöriger Thatsachen gelten, behandelt und
entschieden werden muß. Es gibt hier keine besonderen geheimen Quellen,
aus denen die Päpste allein zu schöpfen das Recht oder die Macht hätten.
Papst und Bischöfe müssen sich hier nothwendig, so zu sagen, unter die Herr-
schaft des gemeinen Rechts stellen, das heißt, sie müssen, wenn ihre Beschlüsse
Bestand haben sollen, jenes Verfahren anwenden, jenes Zeugenverhör mit der
erforderlichen Sichtung und critischen Prüfung vornehmen, welches nach dem
allgemeinen Consensus aller in geschichtlichen Dingen urtheilsfähigen Menschen
aller Zeiten und Völker allein Wahrheit und Gewißheit zu liefern im Stande
ist. Zwei Fragen mußten also und müssen noch jetzt nach diesem Verfahren