Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

                      Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.                            85 
es nicht zu einer ordentlichen und eindringenden Prüfung kommen ließ. Sie 
würde allerdings sehr bedenkliche und mißliebige Dinge zu Tage gefördert 
haben, aber sie hätte auch die Kirche vor einer Verwirrung, welche auch Ihnen 
beklagenswerth erscheint, bewahrt. Wenn Sie nun gleichwohl behaupten, daß 
die vatikanische Versammlung völlig frei gewesen sei, so nehmen Sie wohl 
das Wort „frei“ in einem Sinne, den man sonst in theologischen Kreisen nicht 
damit verbindet. Theologisch frei ist ein Concil nur dann, wenn freie Unter- 
suchung und Erörterung aller Bedenken und Schwierigkeiten stattgefunden 
hat, wenn die Einwürfe zugelassen, und nach den Regeln, welche die Ermit- 
telung der Tradition erheischt, geprüft worden sind. Daß hiezu auch nicht 
der bescheidenste Anfang gemacht worden, daß in der That der immensen 
Majorität der Bischöfe aus den romanischen Ländern entweder der Wille oder 
die Einsicht mangelte, um Wahrheit und Lüge, Rechtes und Falsches gehörig 
von einander zu sondern, das beweisen die Schriften, die in Italien erschienen 
und in Rom vertheilt wurden, wie z. B. die des Dominicaners und Bischofs 
von Mondovi, Ghilardi; das beweist ferner die Thatsache, daß Hunderte dieser 
Bischöfe sich auf die unantastbare Autorität des Alfons Liguori stützen konnten, 
ohne zu erröthen. Bekanntlich haben die Jesuiten, als sie den Plan faßten, 
den päpstlichen Absolutismus in Kirche und Staat, in Lehre und Verwaltung 
zum Glaubenssatz erheben zu lassen, das sogenannte sacrificio dell’ intelletto 
erfunden, und ihre Anhänger und Jünger versichert, viele und darunter sogar 
 Bischöfe auch wirklich überredet: die schönste Gott dargebrachte Huldigung und 
der edelste christliche Heroismus bestehe darin, daß der Mensch, dem eigenen 
Geisteslichte der selbsterworbenen Erkenntniß und gewonnenen Einsicht entsagend, 
sich mit blindem Glauben dem untrüglichen päpstlichen Magisterium, als der 
einzigen sicheren Quelle religiöser Erkenntniß, in die Arme werfe. Es ist 
diesem Orden allerdings in weitem Umfange gelungen, die Geistesträgheit in 
den Augen Unzähliger zur Würde eines religiös verdienstlichen Opfers zu er- 
heben, und mitunter selbst Männer, welche vermöge ihrer sonstigen Bildung 
zur Anstellung der geschichtlichen Prüfung wohl befähigt wären, zum Verzicht 
auf dieselbe zu bewegen. Aber die deutschen Bischöfe sind doch, soweit sich hier 
nach ihren Hirtenbriefen urtheilen läßt, noch nicht bis zu dieser Stufe der 
Verblendung herabgestiegen. Sie lassen auch der menschlichen Wissenschaft, der 
menschlichen Prüfung und Forschung noch ihr Recht und ihre Wirkungssphäre. 
Sie berufen sich selber auf die Geschichte, wie eben auch der unter Ihrem 
Namen erschienene Hirtenbrief gethan. 
       „In dem mir eben zugekommenen Pastoralschreiben des Herrn Bischofs 
Lothar v. Kübel in Freiburg heißt es S. 9: „Bekommt der Papst neue 
Offenbarungen? Kann er neue Glaubensartikel machen? Gewiß nicht. Er 
kann nur erklären, daß eine Lehre in der heiligen Schrift und Ueberlieferung 
enthalten, also von Gott geoffenbart sei, und deßhalb von allen geglaubt 
werden müsse.“ Ich zweifle nicht, daß Ew. Exc. und die übrigen deutschen 
Bischöfe mit diesen Worten einverstanden sind. Dann aber handelt es sich in 
der gegenwärtigen verworrenen Lage der Kirche um eine rein geschichtliche 
Frage, welche denn auch einzig mit den hiefür zu Gebote stehenden Mitteln und 
nach den Regeln, welche für jede historische Forschung, jede Ermittelung ver- 
gangener, also der Geschichte angehöriger Thatsachen gelten, behandelt und 
entschieden werden muß. Es gibt hier keine besonderen geheimen Quellen, 
aus denen die Päpste allein zu schöpfen das Recht oder die Macht hätten. 
Papst und Bischöfe müssen sich hier nothwendig, so zu sagen, unter die Herr- 
schaft des gemeinen Rechts stellen, das heißt, sie müssen, wenn ihre Beschlüsse 
Bestand haben sollen, jenes Verfahren anwenden, jenes Zeugenverhör mit der 
erforderlichen Sichtung und critischen Prüfung vornehmen, welches nach dem 
allgemeinen Consensus aller in geschichtlichen Dingen urtheilsfähigen Menschen 
aller Zeiten und Völker allein Wahrheit und Gewißheit zu liefern im Stande 
ist. Zwei Fragen mußten also und müssen noch jetzt nach diesem Verfahren
	        
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