Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

Das deutsche Reich und seine einjelnen Slieder. 207 
dem Bunde angehöriges und ein demselben fremdes Gebiet, trotz aller Verträge, 
die man zur Ausfüllung der Kluft zwischen Nord= und Südhessen abschloß, 
auf die Dauer geradezu unhaltbar werden. Aus diesem Zustand hat die 
Gründung des Reiches uns erlöst, und es ist schon deßhalb natürlich, daß in 
Hessen lebhafte Sympathien für Kaiser und Reich vorhanden sind. Die Ne- 
gierung weiß, daß sie mit den Gesinnungen der überwiegenden Mehrzahl der 
Bevölkerung des Landes übereinstimmt und daß sie zugleich das Interesse des 
großh. Hauses am Besten wahrnimmt, wenn sie ihre Pflichten gegen das 
Reich mit voller, freudiger Hingebung an die großen nationalen Aufgaben des 
deutschen Cemeinwesens erfüllt und wenn sie in demselben Geiste das ihr durch 
die Neichsverfafsung gewährte Recht der Mitwirkung bei den gemeinsamen 
deutschen Angelegenheiten ausübt. Was sodann die inneren Verhältnisse des 
Landes angeht, so ist es zunächst die Resorm des Wahlgesetzes, hinsichtlich 
deren die Regierung Ihre Mitwirkung in Anspruch nimmt. Die Regierung 
hofft, daß es gelingen wird, auf der Grundlage des von ihr umgeänderten 
Entwurfes zu der dringend wünschenswerthen baldigen Vercinbarung Über das 
neue Wahlgesetz zu gelangen. Nicht minder ist es der Wunsch der Regierung, 
daß von den Ihnen bereits vorliegenden Gesetzes-Entwürfen insbesondere die- 
jenigen, welche sich auf die Gemeindegusgaben, auf die Pensionirung der Civil- 
beamten und auf die Besoldungen der Geistlichen sowie der Lehrer beziehen, 
noch auf dem gegenwärtigen Landtage erledigt werden möchten. Außer diesen 
bereits in Verhandlung begriffenen Gegenständen sind in der nächsten Zeit 
noch eine Reihe wichtiger Aufgaben zu lösen. Es wird sich darum handeln, 
veränderte Personal= und Besoldungsetats auf Grundlage einer möglichst ver- 
einfachten Verwaltungsorganisation zu entwerfen. Zugleich wird die Regie- 
rung ihr Bestreben darauf richten, Einrichtungen zu treffen, durch welche die 
Bevölkerung zur Theilnahme an der Verwaltung in größerem Maße, als es 
bisher geschehen war, herangezogen wird. Einer besonderen Sorgfalt bedarf die 
weitere Behandlung der kirchlichen Verhältnisse, soweit das Staatsinteresse 
dabei in Betracht kommt. Es gilt, unter vollständiger Wahrung der Glau- 
bens= und Gewissensfreiheit, die Rechte Sr. k. H. des Großherzogs auch den 
kirchlichen Gemeinschaften gegenüber aufrecht zu erhalten und zur Förderung 
des confessionellen Friedens in Anwendung zu bringen. Der evangelischen 
Kirche des Landes steht eine Neugestaltung ihrer Verfassung bevor. Erst 
wenn diese Neugestaltung vollzogen ist, wird auch das Verhältniß des Staates 
zur evangelischen Kirche neu geordnet werden können. Was die katholische 
Kirche betrifft, so wird es vor allen Dingen darauf ankommen, den Rechts- 
boden für das Verhältniß zwischen Staat und Kirche, so weit erforderlich, auf 
dem Wege der Gesetzgebung, wieder klar und sicher zu stellen. Die Schule 
und das Unterrichtswesen Überhaupt in allen seinen Abstufungen wird von der 
Regierung, die von der Wichtigkeit dieses Zweigs der öffentlichen Verwaltung 
durchdrungen ist, mit dem regsten Eifer gefördert werden, insbesondere wird 
dafür gesorgt werden, daß die Verhältnisse, welche in Bezug auf das Volks- 
schulwesen einer gesetzlichen Regelung bedürfen, so schleunig wie möglich im 
Wege der Gesetzgebung geordnet werden. Es versteht sich von selbst und be- 
dar deßhalb kaum einer Versicherung, daß die Regierung es sich angelegen sein 
lassen wird, auch den materiellen Interessen des Landes gerecht zu werden, 
die Landwirthschaft zu heben, Handel und Industrie zu pflegen und den schwie- 
rigen Fragen, welche durch die Lage und die Bestrebungen der Arbeiterklasse 
angeregt find, die ernsteste Aufmerksamkeit zuzuwenden. D ie Regierung ver- 
hehlt sich die Schwierigkeit ihrer Aufgabe nicht, allein sie geht mit der Zu- 
versicht ans Werk, welche aus dem Bewußtsein redlichen Strebens entspringt. 
Es ist keine Parteiregierung, m. HH., die vor Ihnen steht. Es ist eine Re- 
gierung, die kein anderes Programm hat, als das Wohl des Landes, und 
die deßhalb auf die Unterstützung aller derienigen glaubt zählen zu dllrfen, 
welchen dieses Wohl am Herzen liegt und welche gleich der Regierung wünschen,
	        
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