Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

212 
Das deutsche Reich und seine einzelnen lkeder. 
wird im Ganzen geneigt sein, zunächst den Commissionsbericht zur Grundlage 
einer eingehenden Berathung des vorliegenden Entwurfes zu machen. Der 
Commissionsbericht will die auch von ihm anerkannten fehlerhaften Zustände 
und Schäden der alten Organisation, ohne an ihren Grundfesten zu rütteln, 
einfach reparirt wissen. Ich gebe zu, daß bis zu einer Reihe von Jahren 
dieser Weg der richtige gewesen wäre, und beklage, daß er damals nicht ein- 
geschlagen wurde; allein es sind nunmehr üÜber diese fehlerhaften Zustände 
neue, großartige politische und staatliche Zustände gekommen, die das Bedürf- 
niß der Verbesserung nicht bloß dringender gemacht, sondern auch den Weg 
und die ganze Richtung der Verbesserung geändert haben. In diesem Augen- 
blicke, indem der Ruf der Selbstverwaltung nicht bloß als officiöse Nedensart 
in die Welt geschleudert wird, sondern bereits ein im Volke durchaus lebendiger 
geworden ist, da kann und will die Regierung demselben ihre Ohren nicht 
verschließen. Die Leute verwalten sich selbst in der Familie, in der Commune, 
sie wollen es auch in größeren Kreisen, und wenn der Staat sich dieser Be- 
obachtung nicht entziehen kann, so ist er auch verpflichtet, für die Quelle, die 
dort sprudelt, den rechten Trichter zu construiren, der sie zusammenfaßt und 
leitet. Ein vollständiges Losreißen von Dem, was wir bisher gehabt haben, 
kann auch ich nicht zugestehen. Wir können eine Analogie des Alten con- 
struiren, wir können gesellschaftliche Gruppen zusammenfassen; aber freilich 
Stände im alten feudalen Sinne können wir nicht aufrecht erhalten, ich halte 
ein jedes derartiges Bestreben für vergeblich. Ueber Detailfragen wird man sich 
verständigen können; ich muß aber als Princip der Regierung, von dem sie 
nicht abgehen kann, hinstellen, daß sie eine Umgestaltung der Kreisvertretungen 
verlangt. Sie kann 1) auf eine ständische Aenderung im bisherigen Sinne 
nicht eingehen, und sie muß 2) dabei stehen bleiben, daß diese Kreisvertretungen 
aus sich selbst heraus Instanzen construiren, welche die Selbstverwallung 
durchführen. Der Staat will, daß ein Theil derjenigen Functionen, deren er 
sich bis jetzt allein bemächtigt hat, auf die Organe der Selbstverwaltung über- 
gehe. Darin liegt kein Mißtrauen gegen die Beamten; im Gegentheil, es 
liegt darin nur ein großes Vertrauen in die Nichtbeamten. Dabei wird aber 
die Regierung niemals zugeben, daß durch die Selbstverwaltung die Autorilät 
des Staates untergraben werde. Finden Sie in dieser Richtung etwas Be- 
denkliches in dem Entwurf, so wird die Regierung bereit sein, sich Verbesse- 
rungen anzuschließen. Ich halte alle freiheitlichen Vewegungen innerhalb des 
Staates, in dem man lebt, für berechtigt, aber ich halte auch dafür, daß stets 
der Staat die Verpflichtung habe, die starke Hand seiner Autorität darüber 
zu halten. Mit der Theorie des bloßen laisser faire und laisser aller haben 
wir schon auf socialem Gebiet traurige Erfahrungen gemacht, sie würden noch 
schlimmer sein auf communalem. Ich denke aber, in dem Entwurf ist jene 
Verpflichtung und Aufgabe des Staates hinreichend vertreten. Theurer wird 
die Verwaltung, das gebe ich zu; aber der günstige Ausfall des Staatshaus- 
haltsetats setzt uns in den Stand, genügende Mittel zu bewilligen. Wir 
wollen bei Abmessung der Summen, die auf die einzelnen Provinzen zu ver- 
theilen sind, die Einwohnerzahl von Hannover, Hessen und Nassau zu Grunde 
legen und vergleichsweise die übrigen Provinzen darnach dotiren. Wir wollen 
außerdem zu Kreisverwaltungszwecken eine Summe von 12,500 Thlr. für 
den Kreis, also im Ganzen ca. 1½ Millionen Thlr. hergeben. Ich kann 
zum Schlusse nur sagen: Ich möchte durch diesen Entwurf die allgemeine 
Dienstpflicht, die auf dem militärischen Gebiet Deutschland so groß gemacht 
hat, auf das bürgerliche Gebiet übertragen. Auch hier allgemeine Tienstpflicht, 
das ist die Parole, die ich ausgebe und die ich bitte anzunehmen. Graf zur 
Lippe (Justizminister zur Conflictszeit): Der Entwurf ziele dahin, den 
großen Grundbesitz auf Null zu reduciren, der große Grundbesitz solle seine 
alte Bedeutung verlieren. Man müsse vielmehr dem Grundbesitz die reale 
Bedeutung wiedergeben, und deßhalb wünsche er, daß das alte germanische
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.