Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

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Vesterreich-Angarn. 
b„Wenn aus dem Landtag in den Reichsrath gewählte Abgeordnete während 
der Reichsrathssession ihr Mandat als Landtags= oder als Reichsraths-Abge- 
ordnete niederlegen, oder in Folge dauernder Verhinderung als aus dem Ab- 
geordnetenhause ausgetreten zu betrachten sind, kann der Kaiser die Vornahme 
neuer Wahlen unmittelbar durch die landtagswahlberechtigten Gebiete, Städte 
und Körperschaften nach Maßgabe des über Durchführung unmittelbarer 
Wahlen in das Abgeordnetenhaus bestehenden Gesetzes anordnen.“ 
10. Febr. (Oesterreich.) Reichsrath, Abg.-Haus: Das Subcomité des 
Verfassungsausschusses hat den Entwurf eines Ausgleichs mit Galizien 
festgestellt. Die Polen lehnen jedoch die daran geknüpften Bedin- 
gungen ab. 
In dem Elaborat des Subcomité wird dem galizischen Landtag eine Reihe 
von materiellen Zugeständnissen gemacht, durch welche dessen Autonomie sowohl 
auf dem Gebiete der Verwaltung als der Gesetzgebung namhaft erhöht wird. 
Das Begehren, die Landesregierung dem Landtage verantwortlich zu machen, 
befindet sich unter den zugestandenen Punkten nicht. Sieht man indeß nur 
die in den drei ersten Abschnitten des Ausgleichsentwurfes vorgeschlagenen 
Erweiterungen der galizischen Autonomie vom praktischen Standpunkte an, so 
erscheinen dieselben als ausreichend, um aus Galizien ein fast unabhängiges, 
mit den Reichseinrichtungen nur lose verbundenes, selbständiges Gemeinwesen 
zu machen. Nachdem die Polen schon vor einigen Jahren den alleinigen Ge- 
brauch ihrer Landessprache in Schule und Amt durchgesetzt, soll ihnen der Un- 
terricht nun vollständig, die Civil= und Gerichtsverwaltung in ihren wichtig- 
sten, weil mit dem Volke in unmittelbarer Beziehung stehenden Nategorien 
und die Civil= und Strafgesetzgebung eebenfalls beinahe in allen Materien 
überantwortet werden, in denen dieselbe im täglichen Leben sich geltend macht; 
dazu wird dem Kronlande eine besondere Vertretung im Ministerium, eine 
besondere Abtheilung des obersten Justizhofes eingeräumt; das Land erhält 
ein eigenes Budget, und seiner selbstthätigen Entwickelung wird damit ein 
Spielraum geöffnet, wie ihn selbst ein ganz unabhängiger Staat nur selten 
haben wird, da bei letzterem mancherlei Rücksichten und Umstände hemmend 
eintreten, die bei einem nach außen hin in keiner Beziehung verantwortlichen 
Provincialstaat schwerlich vorkommen können. Es ist leicht zu ermessen, welcher 
Tendenz die Erweiterung der Autonomie Galiziens in erster Linie zu dienen 
haben würde. Die Polen haben mehr als das ihnen Gebotene im Namen 
ihrer Nationalität beansprucht, und die Pflege ihrer nationalen Interessen 
wäre somit die wesentlichste Aufgabe, welche die administrative und die intel- 
lektuelle Selbständigkeit Galiziens zu erfüllen hätte. Das Subcomité stellt 
daher wohl mit Recht an die polnischen Abgeordneten die Frage: ob sie ge- 
neigt seien, sich zu verpflichten, als Entgelt für jene Concession seinerzeit im 
Reichsrathe für die direkten Wahlen zu stimmen. Dr. Zyblikiewicz holt hierlber 
Clubbeschluß ein und erklärt auf Grund desselben: die Polen würden nun 
und nimmer für direkte Wahlen stimmen. In Folge dessen bleibt jener Punkt 
der Resolution, welcher verlangt, daß dem Lemberger Landtage das ausschlie- 
ßende Recht eingeräumt werde, über die Modalität der Beschickung des Reichs- 
raths aus Galizien zu beschließen, unerledigt. Die Frage der direkten Wahlen 
ist mithin für und gegen die Polen offen. Ferner beantragt das Comité, 
daß die Zugeständnisse nicht früher Reichsgesetz werden dürfen, als bis sie der 
Lemberger Landtag in die Landesordnung inartikulirt hat. Dadurch wird 
dieser genölhigt, zu erklären, ob er durch die Concessionen befriedigt sei oder 
nicht. Die Polen erheben dagegen das Bedenken, daß hiezu im Landtage eine 
2⅜-Mehrheit bei Anwesenheit von ¾ der Mitglieder nöthig und daß diese 
unsicher sei, weil die Ruthenen die Sitzung verlassen und die polnischen Bauern 
gegen die Inartikulirung stimmen könnten.
	        
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