Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

Oesterreich-Angarn. 259 
thum am Kirchenvermögen und die Verleihung von Pfründen: auf das Faktum 
hingewiesen, daß in Böhmen bereits eine ganze Pfarrgemeinde bis auf zwei 
Personen, den Pfarrer und eine andere Person, sich als altkatholisch erklärt 
haben, erklärt der Minister, daß er auch in diesem Falle den Genuß der be- 
treffenden Pfründe dem infallibilistischen Pfarrer zuerkennen müsse; die weitere 
Frage aber, wie sich die Regierung verhalten würde, wenn auch der Pfarrer 
mit der ganzen Gemeinde sich altkatholisch erklärt hätte, beantwortet der Mi- 
nister dahin, daß dann allerdings der Pfarrer im Besitze der Pfründe zu 
schützen wäre. Ueber den Religionsunterricht befragt, ob altkatholische Eltern 
angehalten werden könnten, ihre die öffentliche Schule besuchenden Kinder an 
dem Unterrichte eines infallibilistischen Religionslehrers theilnehmen zu lassen, 
antwortet Dr. v. Stremayr bejahend. Endlich kommt auch die Giltigkeit der 
vor einem altkatholischen Priester geschlossenen Ehen zur Sprache, und der Mi- 
nister gibt seine Ansicht dahin ab, daß derselbe allerdings nicht als der or- 
dentliche Seelsorger, vor welchem nach dem bürgerlichen Gesetzbuch die Ehe, 
um giltig zu sein, geschlossen werden muß, anzusehen sei, da der Staat als 
ordentlichen Seelsorger nur denjenigen betrachten könne, der als solcher von 
der Kirche bestellt worden sei. Allein für den Altkatholiken öffne sich ein Weg, 
eine giltige Ehe ohne Beschwerde ihres Gewissens einzugehen, vermittels der 
Noth--Civilehe. Ein altkatholisches Brautpaar brauche sich nämlich nur zu 
dem ordentlichen Seelsorger zu begeben und ihm die Bitte um Einsegnung 
der Ehe vorzutragen, jedoch beizufügen, daß es an das Dogma der Unfehl- 
barkeit nicht glaube; verweigere, wie anzunehmen, der infallibilistische Pfarrer 
aus diesem Grunde die Einsegnung, dann sei der Fall eingetreten, daß die 
Eheschließung vom Pfarrer aus einem vom Staatsgesetze nicht anerkannten 
Grunde verweigert werde, und sei die Eheschließung vor der Civilbehörde zu- 
lässig: wolle das Brautpaar dann noch der kirchlichen Einsegnung der Ehe 
nach seinem Gewifssen theilhaftig werden, so könne es dieselbe nachträglich vom 
altkatholischen Seelsorger vornehmen lassen. 
1. März. (Oesterreich.) Reichsrath, Abg.-Haus: Der Petitionsausschuß 
desselben befindet bez. der eingelaufenen zahlreichen Petitionen um Er- 
lassung eines Gesetzes gegen den Mißbrauch der Kanzel (ähnlich dem 
Kanzelstrafparagraphen im deutschen Reich), daß die bestehenden Straf- 
gesetze vollkommen ausreichen und beschließt, 
im Hause zu beantragen, die Regierung solle die politischen Behörden an- 
weisen, politische Agitationen der Geistlichkeit von der Kanzel herab streng zu 
überwachen, und die Staatsanwaltschaften instruiren, bei vorkommenden Miß- 
bräuchen das Gesetz in vollem Umfange in Anwendung zu bringen. Gleich- 
zeitig soll die Regierung zur Einbringung der in der Thronrede verheißenen 
confessionellen Vorlagen aufgefordert werden. 
„ (Oesterreich.) Reichsrath, Abg.-Haus: Die Regierung verlangt 
von demselben einen Credit von einer halben Million Gulden behufs 
einstweiliger Unterstützung des hülfsbedürftigen kath. Curatklerus. Die 
Bischöfe sind mit der Maßregel ganz und gar nicht einverstanden. 
„ (Oesterreich.) Reichsrath, Herrenhaus: nimmt das Nothwahl- 
gesetz mit 73 gegen bloß 10 Stimmen, also mit weit mehr als Zwei- 
drittelmajorität an. 
„ (Ungarn.) Unterhaus: nimmt die Wahlreform endlich doch we- 
nigstens im Princip mit einer Mehrheit von 42 Stimmen an. Der 
Abgeordnete Helfy (eigtl. Heller) erklärt aber sogleich im Namen der 
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