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Trankreich.
auf die Nohstoffe sich zwar vorzubehalten, aber erst alle anderen
Mittel, um das Finanzsystem in's Gleichgewicht zu bringen, zu
prüfen und erst dann zu jenem zu greifen, wenn kein anderes Mittel
aufgefunden werden könne. Hr. Thiers ist außer sich über diese Nie-
derlage und will zurücktreten: die Minister geben ihm noch am Abend
ihr Entlassungsgesuch ein.
Die Spannung auf den Ausgang der Debatte und namentlich den Ent-
scheid über die Rohstoffbesteuerung ist eine allgemeine und steigt während der
Debatte von Tage zu Tage. Von vornherein wird befürchtet, daß Hr. Thiers
zurückzutreten entschlossen sei, wenn er mit seinen Anträgen nicht durchdringe.
Vielfach ist man der Ansicht, daß die Hartnäckigkeit des Präsidenten in der
Frage der Rohstoffe weniger auf der Besorgniß beruhe, daß er ohne dieselben
die nöthigen Mittel für den Staatshaushalt nicht aufbringen könne, als auf
seinem festen Willen, den englischen Handelsvertrag zu kündigen, dessen ent-
schiedenster Gegner er stets gewesen. Hr. Thiers war von jeher ein eingefleischter
Schutzzöllner und auf eine Art Schutzzoll geht auch sein Projekt nur, obgleich
er es seinerseits läugnet. Freilich will er die neue Steuer nur den inländi-
schen Consumenten auflegen, da er durch Einführung des Drawbacks die Aus-
fuhr sogar zu begünstigen glaubt. Zum mindesten geht seine entschiedene Absicht
dahin, den Handelsvertrag mit England zu kündigen, um zur Abschaffung
des Systems der Zollverträge und zur Einführung desjenigen der Zollgesetz-
gebung zu gelangen. Sein Finanzminister, Pouyer-Quertier, dagegen enthüllt
sich ganz unumwunden als Schutzzöllner, der er, der große Rouener Fabrikant,
von jeher war. Auf der andern Seite finden in den Industrie-Bezirken die
Projekte des Hrn. Thiers den lebhaftesten Widerstand und wollen große und
zahlreiche Interessen von einer Kündigung des englischen Handelsvertrags nichts
wissen. Außer den Industriestädten Paris, Lyon, Marseille, Havre, Roubaix
haben sich der Generalrath des Hérault, die Ackerbau= Gesellschaft der Gironde
gegen die Regierungsvorschläge, von 60 Handelskammern haben sich nur 5
daflr, 55 dagegen erklärt. Auch die ackerbauende Bevölkerung fürchtet die
Schädigung ihrer Interessen: die Weinproducenten fürchten den engl. Markt
zu verlieren, ebenso die anderen, welche Schlachtvieh, Geflügel, Eier, Butter
und Früchte dahin Überführen. Der Ausfuhrhandel in diesen Produkten hat
gerade in den letzten zehn Jahren ungeheuer zugenommen. Der Maire von
Saint-Etienne hat nach Versailles telegraphirt: er verbürge sich nicht für die
öffentliche Ruhe, wenn der Zollplan des Hrn. Thiers angenommen werde.
Nicht bloß der Gemeinderath in Lyon, sondern auch der Generalrath des De-
partements sitzen in Permanenz, um zu protestiren; ebenso die Generalver-
sammlung der Handels= und Industrie-Syndikate des Landes in Paris. Alle
Hafenstädte, alle Fabrikbezirke befinden sich in derselben Aufregung. Einige
Fabrikanten in der Nähe von Paris haben schon einen Theil ihrer für die
Ausfuhr nach England arbeitenden Industrie dahin Üübertragen. Lyoner Fabri-
kanten wollen Werkstätten und Comptoirs in der Schweiz errichten. Der Ca-
binetschef des Hrn. Thiers beantwortet alle jene Proteste mit einer überaus
trockenen Ablehnung.
Debatte: Hr. Thiers: Ich glaube, bemerkt zu haben, daß die Kammer
endlich das Bedürfniß fühlt, zu einem Entschlusse zu gelangen, und so will
ich denn auch die Conclusionen der Regierung darlegen. Sie haben gesehen,
daß allé in Vorschlag gebrachten Steuern der Reihe nach keine Gnade finden
konnten, und gleichwohl handelt es sich darum, unter außerordentlichen Ver-
hältnissen das Gleichgewicht in unserm Budget zu erhalten. Man sah sich
zuerst nach Ersparnissen um. Wozu, sagte man, so viele Ausgaben für die
Armee! Wozu die Amortisirung? Was die Heereseinrichtungen betrifft, so-
waren wir am Rande eines Abgrundes eingeschlafen und hatten seit dreißig