Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

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Das deutsche Reich und seine einjelnen Slieder. 
möglich: daß sich im Lande noch eine politische Partei bilden würde, die sich 
die Aufgabe stellte, jede extreme Forderung zu bekämpfen, der Zeit Zeit zu 
lassen, welche an der Hand der Regierung versuchen würde den Conflikt auf 
gesetzlichem Wege zu lösen. „Aber solche Gesetze nehmen wir von einer Re- 
gierung nicht an — sagte neulich eine Stimme — die ihre Hände befleckt 
hat durch die Partei!“ M. HH1 Das ist ein so schwerer Vorwurf, daß 
Sie es mir nicht verdenken werden, wenn ich versuche zu prüfen, wie rein die 
Hände sind, die uns diesen Vorwurf zuschleudern. Als vor einiger Zeit der 
bekannte Initiativantrag ins Haus gebracht wurde, machte man aufmerksam 
auf den Inhalt der Rede des Grafen Bray bei Gelegenheit der Versailler 
Verträge, der das politische Programm richtig fest gesetzt habe, und doch hat 
das nicht gehindert, daß ein Organ jener Partei ihm in den Mund legte: er 
habe die Verträge dort geschlossen in der Hoffnung, daß sie hier durchfallen 
würden; bei den Berathungen gab man sich Mühe zu zeigen, man stehe einem 
Ministerium gegenüber das mit Sack und Pack ins preußische Lager des 
Einheitsstaates übergehe; man glaubte hohe Bollwerke dagegen aufthürmen 
zu müssen, und heute wird von derselben Seite uns der Vorwurf der Ver- 
fassungsverletzung gemacht. Das ist kein gleiches Maß, sondern Verdächtigung, 
das dient der Partei. Aber dem „anathema sit“, das dem Gegner zuge- 
rufen wird, gegenüber haben wir einen deutschen Fluch: Fluch der Lüge! 
Und Lüge ist es zu sagen: daß Mmisterium sei ein Feind der katholischen 
Kirche, wir seien die Nepräsentanten der Altkatholiken. Das Gesetz gewährt 
jenen Schutz, und wir nach ihm; es ist unwahr, wenn man von bayerischer 
Treue in Bauernversammlungen spricht, und die Räthe der Krone aufs 
plumpste verdächtigt, indem man behauptet, sie wollen das Volk preußisch oder 
protestantisch machen. Es ist hämisch, vom abnehmenden Glanze der Krone 
zu sprechen und den politischen Unfrieden so hoch zu treiben, daß Bayern in 
den Einheitsstaat hineingejagt wird. Das geschieht von den Leuten, deren 
drittes Wort ist: Aufrechthaltung der Selbständigkeit Bayerns. Seit 20 Jah- 
ren arbeitet die Gesetzgebung wie mit Dampf, und die, welche die Gesetze an- 
wenden sollen, können sie kaum alle lesen, das Volk weiß nichts von diesen 
Gesetzen, die Stabilität der Verwaltung ist längst verloren gegangen, in 20 
Jahren hatten wir 17 Minister des Innern, 9 des Auswärtigen! Das find 
Zustände die einem Lande bedenkliche Symptome sein können; wo die Partei- 
strömung so weit getrieben, ists fast unmöglich, daß der Richterstand seine 
Unbefangenheit bewahre, und man hat auch von jener Seite behauptet, das 
Vertrauen in der Unparteilichkeit des Richterstandes sei bereits erschüttert. 
Wenn dem so ist, so ists ein Beweis dafür, daß wir weit gekommen find !! 
Jede Partei weiß wie viel sie von der gegnerischen Presse zu leiden hat, es 
gibt keine Regierungs= und Landesinteressen mehr, wir sind auf diesem Gebiete 
mundtodt gemacht. Würde ich meinem persönlichen Geschmack zu folgen haben, 
so würfe ich das Gesetz über den Mißbrauch der Presse ins Feuer, wir hätten 
dann einen Mißbrauch der Presse, nicht aber auch des Gesetzes. Wer hier in 
der Kammer sitzt, wird schwerlich den Eindruck haben, daß er vor einem ob- 
jectiven, gerechten Richter sitze; deßhalb haben auch Ihre Berathungen keines- 
wegs so großen Werth wie Sie glauben; die Beschlüsse gehen den Berathungen 
voraus, es gibt manche, die glauben es wäre das Beste mit der Abstimmung 
anzufangen. Der Parteistandpunkt ist der einzige, und wenn heute die Re- 
gierung Über Seidenzucht oder über die Drehkrankheit der Schafe einen Ent- 
wurf brächte — ich bin Überzeugt, es gäbe auch da einen Parteistandpunkt. 
Der Referent Hauck hatte das Recht und die Pflicht, nach seiner Ueberzeugung 
zu handelu, aber wenn ich mich nicht sehr täusche, so hatte jeder das dunkle 
Gefühl, es sei eine ungesunde Erscheinung, zu bemerken, daß ein Bezirksamt- 
mann von dieser Stelle aus dem Ministerium, dessen Organ er ist, den Text 
liest. In Japan hat der abgetretene Minister sich den Bauch aufzuschlitzen, 
bei uns sollen dies Geschäft die eigenen Organe des Ministeriums besorgen!
	        
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