Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

Aebersicht der Ereignisse des Jahres 1872. 537 
lange Zwitterstellung in Deutschland und in Europa aufgedrückt hatten. Mit 
frischem Muth, ohne hemmende Rücksicht auf überwundene Zustände, im Voll- 
gefühl eben erprobter Kraft und durchdrungen von der Zuversicht auf eine 
großen Zukunft, war die Nation in ihrer verfassungsmäßigen Eliederung, 
dem Kaiser, dem Bundesrath und dem Reichstag, energisch an's Werk ge- 
gangen, die Grundlagen des neuen Reichs zu ordnen und zwar im Sinne 
allseitigen aufrichtigen Einverständnisses und unter möglichster Ausgleichung 
der mannigfaltigen Interessen. Das war im Allgemeinen die Lage der deut- 
schen Dinge zu Beginn des Jahres 1872. 
Durch den gewaltigen Krieg waren die Machtverhältnisse der euro-uropa, 
päischen Staaten unter einander gründlich verschoben worden. Das ’ 
herige Uebergewicht Frankreichs war für immer gebrochen und die bisherigen Seufo 
Allianzen oder Allianztendenzen der verschiedenen Regierungen hatten sich ge- 
I1öst oder lösten sich mehr und mehr und machten neuen Combinationen Platz, 
wenn es auch vorerst noch der Zeit und der Gelegenbeit überlassen bleiben 
mußte, sie zu festern politischen Gebilden auszugestalten. Deutschland nahm wie- 
der diejenige hervorragende Stellung in Mitteleuropa ein, die es Jahrhunderte 
lang unbestritten besessen und geübt, aber schon vor langer Zeit und nicht 
allein durch eigene Schuld eingebüßt hatte, bis zuletzt freilich auch fast der 
letzte Schimmer vergangener Herrlichkeit verschmunden war — nicht in Folge 
eines momentanen Glückwechsels, sondern als das Ergebniß jahrzehntelangen 
stillen Wirkens, unermüdlicher Arbeit, mühevollen Ringens, entschlossen die 
errungene Stellung zu behaupten, aber auch entschlossen, sie in keiner Weise 
zu mißbrauchen. Am prägnantesten zeigte sich dieß im Verhältniß zu Frank- 
reich. Der alte Haß gegen Frankreich, die Folge Jahrhunderte langer Miß- 
handlungen, welche Deutschland von ihm erlitten, war gesühnt und damit 
verschwunden: soweit es nur möglich war, bemühte sich Deutschland wohl- 
wollend und aufrichtig, dem besiegten Gegner die Hand zu reichen und ihm 
zu helfen, sich allmälig wieder aufzurichten, obgleich es dafür von Seite der 
großen Masse des französischen Volkes wenig Dank einerntete. Indeß es 
konnte sich damit trösten, daß es den großen europäischen Interessen ein 
Genüge that. Freilich ganz uneigennützig war das freundliche Entgegenkom- 
men seinerseits doch nicht. Ein zerrüttetes Frankreich war unausweichlich 
eine moralische Gefahr für Deutschland und nur eine geordnete Regierung 
desselben war im Stande, die ungeheure Kriegsentschädigung, zu der es sich 
hatte entschließen müssen, auch wirklich zu leisten. Schon im Januar 1872 
wurden die regelmäßigen diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Regie-
	        
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