Mebersicht der Ereignisse des Jahres 1872. 539
besteht wenigstens eine große Partei und sucht sich fortwährend geltend zu
machen, die offenbar bereit wäre, seiner Zeit und unter gewissen Voraus-
setzungen Frankreich die Hand zu bieten gegen Deutschland. Gerade diese Oener-=
Aussicht aber ist es, welche Oesterreich veranlaßt, fest an der Seite Deutsch.
lands zu stehen. Oesterreich hat von Rußland, gelinde gesagt, wenig zu land.
hoffen, aber mancherlei zu fürchten. Von Deutschland aber hat Oesterreich,
wenn es sein wahres Interesse zu erkennen fortfährt und nicht Deutschland
seinerseits provozirt, was kaum denkbar ist, gar nichts, aber auch absolut gar
nichts zu fürchten und die Versuche einzelner, auch deutscher Parteien, demselben
allerlei Besorgnisse wegen Böhmens in's Ohr zu setzen, wären geradezu
läppisch, wenn es nicht auf der Hand läge, daß und warum diese Parteien
ein Interesse daran haben, Oesterreich und Deutschland zu entzweien und
jenes gegen dieses zu hetzen. Nur wenn Oesterreich durch eine falsche Po-
litik, durch die eigene Schuld seiner Lenker, ohne Zuthun Deutschlands und
gegen sein Interesse und seine Wünsche auseinanderfiele, dann allerdings
wäre es keinen Augenblick zweifelhaft, wohin die deutschen Theile Oesterreichs
fallen müßten und wollten. Deutschland hat jedoch das allergrößte und zugleich
unzweifelhafteste Interesse daran, daß die österreichische Monarchie in ihrem ge-
genwärtigen Bestande beisammen bleibe, wachse und gedeihe, und Oesterreich
kann darin fast so fest auf Deutschland wie auf sich selber zählen, voraus-
gesetzt allerdings, daß das deutsche Element in Oesterreich in keiner Weise ver-
gewaltigt werde, daß es vielmehr in Oesterreich, dessen einziger Kitt es von
jeher war, noch ist und zu allen Zeiten sein wird, diejenige Stellung ein-
nehme, die ihm ermöglicht, seine uralte Aufgabe zu erfüllen, die deutsche
Kultur nach Osten zu tragen. Im J. 1871 schwebte allerdings das deutsche
Element in Oesterreich und damit das kaum hergestellte innige Verhältniß
zu Deutschland durch den unsinnigen Versuch des Ministeriums Hohenwart-
Schäffle einen Augenblick in höchster Gefahr; aber noch vor dem Ende des
Jahrs nahm dieser Versuch ein klägliches Ende: der Kaiser erkannte noch
rechtzeitig, daß die feudal-national-clericale Coalition nicht den wirklich con-
servativen Interessen diene, sondern nur geeignet wäre, Oesterreich zunächst
in Europa gänzlich zu isoliren und schließlich nach allen Richtungen der
Windrose auseinander zu sprengen. Noch vor dem Ende des Jahrs 1871
ward das Ministerium Hohenwart-Schäffle entlassen und die Gefahr für
Oeslerreich und Deutschland war beseitigt, als neuerdings ein entschieden
verfassungstreues und deutsch gesinntes Ministerium unter dem Vorsitze des
Fürsten Adolf Auersperg an seine Stelle trat. Die Interessen und An-