Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

540 Aebersicht der Ereignisse des Lahres 1872. 
schauungen Oesterreichs und Deutschlands fallen zwar nicht überall vollstän- 
dig zusammen; namentlich in den kirchen-politischen Fragen scheint Oester- 
reich dem raschen und entschlossenen Vorgehen Deutschlands nicht in gleichem 
Schritte folgen zu können und die unberechtigten Ansprüche der Hierarchie 
mehr als Deutschland schonen zu wollen; aber bis jetzt wenigstens war der 
Unterschied der Politik beider Staaten mehr ein thatsächlicher als principieller, 
hat doch Oesterreich die Verkündigung der päpstlichen Unfehlbarkeit seiner- 
seits sofort dazu benützt, das unselige Concordat von 1855 zu künden, und 
zwar einseitig und ohne erst mit Rom darüber zu unterhandeln oder auch 
nnr zu verhandeln. Die Beziehungen zwischen Oesterreich und Deutschland 
waren daher auch während des ganzen Jahrs 1872 und zwar durchaus im 
Einklang mit der weitaus überwiegenden öffentlichen Meinung beider Länder 
Drei= vollkommen freundschaftliche. In dem Besuche, den der Kaiser von Oester- 
1t4 reich im September in Berlin abstattete, fanden dieselben auch einen präg- 
menkunst. nanten Ausdruck. Dadurch aber, daß sich in Abänderung früher getroffener 
Dispositionen und in Folge andern Entschlusses auch der Kaiser von Ruß- 
land zu demselben einfand, gestaltete sich der Besuch zu einem europäischen 
Ereignisse. Auf dem Verhältnisse des neuen deutschen Reiches zu Rußland 
und auf demjenigen ebendesselben zu Oesterreich beruht ganz wesentlich die 
neue Ordnung der Dinge in Europa seit dem Sturze Napoleons. Deutsch- 
land und Oesterreich sind von Natur und durch die ganze Geschichte ihrer 
Entwicklung auf einander angewiesen, und sie können so ziemlich überall 
Hand in Hand gehen, sobald sie nur wollen und, das eine wie das andere, 
alle widrige Erinnerungen als vergessen und vergeben betrachten, was auch 
in der That und zwar in steigendem Maße der Fall ist. Die Interessen 
Deutschlands und Rußlands fallen zwar nicht ebenso zusammen, aber sie 
stehen doch, zumal augenblicklich, nirgends in einem unlösbaren Gegensatze 
und momentan convenirt es beiden, nicht bloß Frieden, sondern sogar 
Freundschaft zu halten und zu pflegen. Nicht ebenso steht es zwischen Oester- 
reich und Rußland. Ihre Interessen stehen bis auf einen gewissen Grad in 
einem geradezu diametralen Gegensatze. Rußland hat seinerseits von Oester- 
reich kaum etwas zu fürchten, aber dieses steht seinen Plänen vielfach im 
Wege und seit dem Krimkriege war das Verhältniß zwischen beiden Höfen 
und beiden Regierungen ein nichts weniger als freundschaftliches, vielmehr 
geradezu gespanntes, und Oesterreich glaubte fortwährend sich über russische 
Umtriebe beklagen und gegen Rußland und seine Pläne auf der Wache 
stehen zu müssen, obgleich beide gleichmäßig gegen jede feindselige Absicht
	        
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