Uobersicht der Ereignisse des Nahres 1872. 541
protestirten und das Bedürfniß friedlicher Entwickelung betonten. Was lag
nun näher, als daß Deutschland, der Freund Oesterreichs wie Rußlands,
sich bemühte, auch diese beiden einander wieder näher zu bringen und so
dem Frieden Europa's eine neue und zwar im höchsten Grade gewichtige
Garantie zu schaffen? Und das gelang ihm denn auch durch die Dreikaiser-
Zusammenkunft zu Berlin im September 1872. Von festen Abmachungen
irgend welcher Art, obgleich alle drei Herrscher ihre Minister des Auswärtigen
an der Seite hatten, war dabei offenbar keine Rede und ebenso wenig von einer
Wiederherstellung der frühern Allianz der drei Ostmächte. Die öffentliche Mei-
nung faßte die Zusammenkunft wohl zutreffend sofort als eine Manifestation
für die neue Ordnung der Dinge in Europa, somit gegen alle allfälligen Rache-
gelüste der Franzosen auf und als eine Garantie dafür, daß Rußland zur
Zeit wenigstens nicht daran denke, die orientalische Frage in Fluß zu bringen.
Für Oesterreich ist dieß bezüglich seines Verhältnisses zu Rußland die Haupt- hoe
frage. Mit diesem negativen Resultat war denn auch allerdings etwas, doch #erhärt=
in der That nicht allzuviel erreicht, wenn die Haltung beider Mächte gegen- Kabnn
über den Zuständen der Pforte dieselbe blieb. Die Verständigung derselben und der
scheint jedoch seither einen weiteren Schritt gemacht zu haben: Oesterreich Pforte.
hat es aufgegeben, das türkische Regiment unbedingt und einseitig zu unter-
stützen und dagegen die sog. Vasallenstaaten mit kaum verhüllter Abneigung
und Geringschätzung zu behandeln. Die Zustände dieser Staaten sind noch
sehr unvollkommene und mangelhafte, aber in ihnen liegt doch die Zukunft
des Orients, und es liegt im Interesse des Friedens für Europa, ihnen
fördernd und helfend entgegenzukommen, zumal in demjenigen Oesterreichs,
dem eine vorzeitige Lösung der orientalischen Frage durch das Schwert in
keiner Weise zusagen kann. Rußland dagegen ist seinerseits unzweifelhaft
berechtigt, die Interessen der der Pforte unterworfenen christlichen Völkerschaf-
ten, die durch Nationalität und Religion mit ihm verbunden sind, nach Mög-
lichkeit zu wahren; aber es scheint auch nicht zu verkennen, daß jeder Versuch
von seiner Seite, die orientalische Frage mit Gewalt zu lösen und sich Kon-
stantinopels zu bemächtigen, sofort ganz Europa gegen es in Waffen rufen
müßte. Wenn es auch Ursache hat, den kranken Mann am Bosporus
eifrig zu überwachen, so muß es doch einsehen, daß die Agonie, solange sie
sich selbst überlassen bleibt, nur eine sehr langsame ist und daß die christ-
lichen Staaten, die sich aus den Unterthanen der Türkei allmälig heraus-
bilden, noch viel zu weit zurück sind, um jetzt schon die große Erbschaft an-
treten zu können. Wenn also auch seit dem französischen Kriege dieß herz-