Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

Aebersicht der Ereignisse des Jahres 1872. 543 
insofern auf Seite Deutschlands, als sie jeder materiellen Unterstützung Frank- 
reichs entschieden widerstrebte. Der deutsche Siegeslauf machte dem Zwie- 
spalt ein Ende und die Italiener hatten nichts dagegen, den deutschen Er- 
folgen ihrerseits die Erwerbung Roms wie früher diejenige Venedigs zu 
verdanken. Der König Victor Emanuel eröffnete das erste Parlament des 
Königreichs in der ewigen Stadt mit der Erklärung: „Wir sind in Nom 
und werden in Rom bleiben.“ Keine Macht war gewillt oder stark genug, 
Italien daran zu hindern, auch Frankreich nicht; aber Frankreich war damit 
keineswegs einverstanden. Napoleon hatte den ersten Anstoß zur Befreiung 
Italiens gegeben und sich schließlich, wenn auch nicht ganz von freien Stücken, 
über die Errichtung des Königreichs Italien beruhigt. Aber er behielt Rom 
besetzt und niemals hätte er eingewilligt, den letzten Rest der weltlichen Herr- 
schaft des Papstes, wenn sie auch nur noch eine scheinbare war, den Ita- 
lienern Preis zu geben und damit ihre Unabhängigkeit zu einer wirklichen 
und vollständigen zu machen. Von 1860 —1870 war diese Unabhängigkeit 
nur eine sehr bedingte gewesen. Indem Napoleon den Italienern fortwährend 
eine Versöhnung mit dem hl. Stuhle und damit die Erwerbung Roms durch 
moralische Mittel vorspiegelte, hielt er sie in beständiger Abhängigkeit von 
sich und seiner Politik, obgleich es für alle andern außer Zweifel stand, daß 
Italien auf diese Weise nie und nimmer in den Besitz von Rom gelangen 
werde, indem der Papst jeder Transaction sein beständiges non possumus 
entgegensetzte und auch nicht entfernt daran dachte, jemals auf Rom zu ver- 
zichten, vielmehr fort und fort den ganzen alten Kirchenstaat zurückforderte. 
Jetzt war freilich die Sachlage eine total andere geworden. Italien war 
vollendet, Rom war in den Händen der Italiener und ihre allseitig aner- 
kannte Hauptstadt geworden: Oesterreich hatte auf alle seine früheren Rechte 
und Ansprüche gänzlich und aufrichtig verzichtet, Deutschland dachte nicht 
daran, die Politik früherer Jahrhunderte wieder aufzunehmen, Frankreich 
war zunächst außer Stande, in den Gang der Dinge in Italien praktisch 
einzugreifen. An dem guten Willen dazu hatte es nicht gefehlt. Statt des 
Kaisers regierte jetzt eine souveräne Nationalversammlung, deren Majorität 
die ganze Politik des Kaisers seit 1859 gegenüber Italien als eine durchaus 
verfehlte betrachtete und zudem die Befreiung des Papstes und die Wieder- 
herstellung der weltlichen Herrschaft der Kirche im Einklang mit dem Clerus 
und der Mehrheit des meist sehr unwissenden Landvolkes, das darum ein 
willenloses Werkzeug in der Hand des Clerus ist, für ein vortreffliches Mittel 
erkannte, alle katholischen Interessen um das Banner Frankreichs zu schaaren
	        
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