Nebersicht der Ereignisse des Kahres 1872. 577
„seien, wir, die Regierung, allen solchen Ansprüchen gegenüber die volle
„Einheit der Souveränetät des Staates mit allen uns zu Gebote stehenden
„Mitteln aufrecht erhalten werden, und daß wir in dieser Beziehung auch
„der vollen Unterstützung der großen Majorität beider Confessionen sicher
„sind. Die Souveränetät kann nur eine einheitliche sein und sie muß eine ein-
„heitliche bleiben. Und wer die Gesetze als für ihn nicht vorhanden ansieht,
„der stellt sich außerhalb der Gesetze und sagt sich los vom Staate“.
Die öffentliche Meinung, die ultramontane Partei natürlich ausgenom-vie Je-
men, war damit nicht nur einverstanden, sondern verlangte, dem Ultramon- *
tanismus und den Bischöfen gegenüber, die mit Lust nach den Mitteln
früherer Jahrhunderte, den Excommunicationen in der verletzendsten Form,
gegriffen hatten und keine Zweifel darüber ließen, daß Rom entschlossen sei, die
Allgewalt des Papstes und seine Unfehlbarkeit, so weit es von ihm abhänge,
den Gläubigen mit Gewalt aufzuzwingen, dringend nach einer Maßregel, die
den festen Willen der Nation bezeuge, sich das nicht gefallen zu lassen. Wenn
nun jenes Dogma keine Erfindung unserer Zeit war, so waren es die Je-
suiten und die jesuitische Partei innerhalb der katholischen Kirche gewesen,
die es längst gelehrt und verkündet, sie, die es im vatikanischen Concil durch-
gesetzt, sie, die den von den Ultramontanen geradezu vergötterten, in Wahrheit
schwachen Papst seither in den Händen hatten. Gegen sie hatte sich daher
der allgemeine Unwille gelenkt und waren beim Reichstage zahlreiche Petitionen
eingegangen. Dieselben kamen am 15. und 16. Mai im Reichstage zur
Behandlung. Alle Fractionen, mit einziger Ausnahme der Ultramontanen,
waren darüber einig, daß es an der Zeit sei, das rücksichtslose Vorgehen
des Gegners mit einem raschen und energischen Schlage gegen diesen Kern
der „streitenden Kirche“ zu beantworten. Der Antrag der clerikalen Fraction,
über jene Petitionen einfach zur Tagesordnung überzugehen, wurde mit der
erdrückenden Majorität von 224 gegen 73 Stimmen abgeworfen und dagegen
mit 205 gegen 84 Stimmen beschlossen: „die verbündeten Regierungen auf-
„Zufordern, baldmöglichst einen Gesetzesentwurf vorzulegen, welcher auf Grund
„des Eingangs und der Nro. 13 und 16 des Art. 4 der Reichsverfassung
„die rechtliche Stellung der religiösen Orden, Congregationen und Genossen-
„scchaften, die Frage ihrer Zulassung und deren Bedingungen regelt, so
„wie die staatsgefährliche Thätigkeit derselben, namentlich der Gesellschaft
„Jefu, unter Strafe stellt". Die Debatte schien die Beruhigung zu gewähren,
daß der Bundesrath nicht abgeneigt sei, auf einen solchen Antrag einzugehen.
Dieß war denn auch wirklich der Fall; am 11. Juni genehmigte er einen
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