Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

584 Uebersicht der Ereignisse des Zahres 1872. 
Eroberer ein nicht rühmliches Ende machte. Aber man kann auch nicht 
sagen, daß damals die Kirche als Siegerin aus dem Kampfe hervorgegangen 
sei: sie erwehrte sich ihres Gegners, nicht ohne schwere Wunden davonzu- 
tragen und ohne ihre Zwecke voll und ganz durchgesetzt zu haben. Die Frage 
blieb thatsächlich eine unentschiedene. Das Mittelalter sank dahin und aus 
seinen Trümmern entwickelte sich eine Masse neuer Ideen, neuer Interessen, 
neuer Mächte. Eine neue Weltanschauung begann sich emporzuringen und 
allmälig zu klären, die Zeit ist eine ganz andere geworden, der Horizont 
hat sich unendlich erweitert, Europa erscheint als ein vollständig umgewan- 
deltes. Und dennoch, kaum ist Deutschland mit Macht wieder aufgestanden, 
kaum sehen wir das deutsche Reich wieder hergestellt, so finden wir es auch 
schon im Kampfe mit den Ansprüchen der römischen Kirche, bricht auch der 
alte Kampf zwischen Kaiser und Papst wieder in helle Flammen aus. Aber 
die ganze Unterlage desselben ist eine andere geworden: Rom ist so wenig 
dasselbe, das es zur Zeit Gregor VII. oder Innocenz III. war, als das 
das deutsche Reich noch dasselbe ist, wie zu den Zeiten Heinrich III. oder 
Friedrich Barbarossals. Der Norden von Deutschland spielte damals verhält- 
nißmäßig nur eine sehr untergeordnete Rolle, Preußen existirte noch gar 
nicht. Erst seither hat es sich aus kleinen Anfängen unter unaufhörlichen 
Kämpfen mit Mühe und Noth emporgerungen, bis es, das ächte Kind seiner 
Zeit, geworden, was es heute ist, der Kern des neuen deutschen Reichs und 
mit diesem, durch dieses die tonangebende Macht Europas. Gewaltig ist, 
was es erst durch kluge Politik, dann durch energisches Ergreifen günstiger 
Monmente, endlich durch sein gutes Schwert errungen hat. Seine Stellung 
könnte in Wahrheit eine glänzendere und einflußreichere kaum sein. Aber gro- 
ßen Rechten entsprechen auch große Pflichten und glücklich ist es für Deutschland, 
daß Preußens Fürsten wie sein Volk sich in harter Schule gewöhnt haben, ihre 
Pflichten jederzeit in erste Linie zu stellen und sie mit Aufbictung aller 
Kräfte ganz und voll zu erfüllen. Kein Volk in Europa hat ein so leben- 
diges und ausgebildetes Staatsbewußtsein wie das preußische, und das allein 
genügte, um Preußen, sobald es die Umstände so fügten, mit den weltlichen 
Ansprüchen der römischen Kirche fast unausweichlich in einen Conflikt zu 
bringen, der auf die Dauer unmöglich überkleistert werden konnte und früher 
oder später zu offenem Kampfe führen mußte. Ganz Deutschland führt den 
Kampf wider Rom, das Reich hat ihn durch seinen Beschluß wider die Je- 
suiten aufgenommen, aber in erster Linie steht doch immer und immer wieder 
Preußen, ist es Preußen, das den Versuch macht, die Frage auf dem Wege
	        
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