Uebersicht der Ereignisse des Vahres 1872. 587
nisse und unter dem Drucke der lebendigen Einsicht, daß der preußische
Staat, so weit es nur immer möglich sei, dem gesammten übrigen Deutsch-
land in allen seinen Institutionen als Beispiel und Muster voranleuchten
müsse, war man sich allmälig von beiden Seiten näher gekommen. In der
Landtagssession von 1872 gelang es endlich der Regierung und dem Abge-
ordnetenhause, sich über alle wesentlichen Punkte zu verständigen. Am 23.
März wurde die Vorlage einer neuen Kreisordnung zunächst für die
sechs östlichen Provinzen der Monarchie mit den Abänderungsanträgen der
Commission, denen die Regierung nicht entgegentrat, mit der gewaltigen
Majorität von 256 gegen bloß 61 Stimmen angenommen; die letzteren
gehörten ausschließlich der äußersten Rechten, und, bezeichnend genug, dem
ultramontanen Centrum an. Damit wurde eine Reform eingeleitet, die dem
preußischen Volksgeist erst seine volle Bethätigung und Betheiligung an der
Entwicklung des Landes gewährt und sichert und eine Thatsache geschaffen,
deren Bedeutung nicht bloß für den innern Ausbau des preußischen Staates,
sondern auch für das gesammte Deutschland nicht hoch genug angeschlagen
werden kann. Dieselbe fußt auf drei großen durchschlagenden Gedanken:
einmal schafft sie in Vervollständigung der Reformen des Freiherrn v. Stein
und seiner Zeit, auf denen die ganze Größe des heutigen Preußens beruht,
die freie Landgemeinde, dann bahnt sie eine weitgreifende Decentralisation
der Verwaltung an, indem sie das gesammte Volk zur Theilnahme an der-
jenigen der ihnen zunächst liegenden Angelegenheiten beruft, und drittens
endlich organisirt sie die Verwaltung im Gegensatz zur bisherigen bu-
reaukratischen Willkür nach Gesetzen und in den überlieferten Formen der
Rechtspflege, aber doch getrennt von der eigentlichen Justizpflege. Gesichert
war jedoch das große Werk durch die überwältigende Mehrheit des Abge-
ordnetenhauses noch keineswegs. Mit dem Abgeordnetenhause galt es nur
sich zu verständigen und diese Verständigung war, sobald die Negierung
wollte, keineswegs schwer; mit dem Herrenhause war sie von vornherein so
viel als unmöglich, dominirten doch seit jeher dort gerade diejenigen feudalen
Elemente, welche durch die neue Kreisordnuug in ihren ausschließenden In-
teressen tödlich getroffen wurden. In Folge der ganz unverhältnißmäßigen Das
Vertretung, welche im preußischen Herrenhause dem Kleinadel, dem sogen. vrevbische
alten und befestigten Grundbesitz, eingeräumt wurde, hat dasselbe der Würde “E—„"
eines Staates wie Preußen und seiner eigenen Aufgabe niemals entsprochen,
steht entschieden dem österreichischen Herrenhause, wie sich dieses allmälig
thatsächlich gestaltet hat, weit nach und ist für Preußen nach allgemeiner