Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

590 Nebersicht der Ereignisse des Jahres 1872. 
zu erheben. Eine dritte Niederlage war es, als sie im Januar 1872 die 
Begehren des Bischofs von Augsburg wider den altkatholischen Pfarrer von 
Mering im Abgeordnetenhause nicht durchzusetzen vermochte und es klar wurde, 
daß es ihrerseits ein vergebliches Bemühen sei, den Staat zum gehorsamen 
Diener der kath. Hierarchie zu erniedrigen. Die Niederlage war insofern 
principiell eine überaus wichtige, ja entscheidende, wenn auch der Schutz, den 
die Regierung der altkatholischen Bewegung angedeihen ließ, ein überaus be- 
schränkter und offenbar zaghafter war. Das Ministerium Lutz, denn so muß 
es wohl genannt werden, obgleich es Hrn. v. Lutz nicht gelang, sich zum 
Ministerpräsidenten emporzuschwingen, ist deßhalb vielfach angegriffen und 
scharf getadelt worden. Und doch geschah und geschieht es kaum mit Recht. 
Das Land ist unläugbar in zwei fast gleich starke Hälften zerfallen: auf der 
einen Seite steht die katholische Hierarchie mit dem gesammten Clerus und 
der übergroßen Mehrheit des katholischen Landvolks, unterstützt von einer 
ultramontanen Presse, die an leidenschaftlichem Eifer, ja theilweise geradezu 
an Frechheit alles bisher Dagewesene hinter sich zurückläßt, auf der andern 
sehen wir die gesammte protestantische Bevölkerung und die katholische Städte- 
bevölkerung mit Allem, was nur in irgend einer Weise liberal sein und den 
gebieterischen Forderungen der Zeit gerecht werden will. Die Landtags- 
wahlen von 1869 entsprachen dieser Sachlage und Neuwahlen würden auch 
in diesem Augenblicke kaum ein viel anderes Resultat ergeben — eine kleine 
Majorität, sei es der ultramontanen, sei es der liberalen Partei. Da scheint 
es nun doch in der That die Aufgabe der Krone zu sein, den verhängniß- 
vollen Zusammenstoß der beiden großen und fast gleich starken Parteien zu 
verhüten und inzwischen — anders kann man es allerdings nicht nennen — 
zu laviren, bis die Entwickelung der Dinge im Großen und Ganzen, in der 
Bayern nur ein einzelnes Moment ist, der einen oder der andern, momentan 
oder dauernd, ein unbestrittenes Uebergewicht wird gegeben haben. Denke 
man sich nur einmal, die Verhältnisse lägen anders. Wäre z. B. Bayern 
eine Republik, so hätte die clericale Partei im Jahre 1869 unmittelbar nach 
dem Zusammentritte des Landtags sofort von ihrer Moajorität, so klein sie 
auch war, den rücksichtslosesten Gebrauch gemacht, das ganze Ministerium 
beseitigt und ein anderes aus ihren eigenen Reihen gewählt; die liberalen 
Beamten wären möglichst von oben bis unten beseitigt und in Altbayern 
und allen katholischen Gegenden durch eifrige Anhänger der Partei, in den 
protestantischen Landestheilen durch möglichst gefügige Werkzeuge ersetzt wor- 
den und dann wäre es an die Arbeit gegangen, die gesammten Grundlagen
	        
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