Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

Nebersicht der Ereignisse des Jahres 1872. 591 
des Staates nach ultramontanen Anschauungen umzuformen. Das ohne 
Zweifel wahnsinnige Regiment hätte allerdings kaum sehr lange gedauert: 
die protestantische Bevölkerung des Landes würde es nicht allzu lange ertra- 
gen haben, der ganze Geist der Zeit hätte sich dagegen aufgebäumt; es wäre, 
das ist freilich mehr als bloß wahrscheinlich, mit Gewalt gestürzt oder 
bei den nächsten Wahlen auf demselben Wege, auf dem es zur Gewalt 
gekommen, auch wieder beseitigt worden. So ungefähr hätten sich die Dinge 
iinn Bayern entwickeln müssen, wenn diese Entwickelung ausschließlich in der 
Hand des Volkes, des in Parteien und zwar in zwei große Parteien zer- 
fallenen Volkes gelegen hätte, und es ist nicht abzusehen, wie es anders hätte 
gehen können; denn eine Mittelpartei bestand 1869 bereits nicht mehr und 
gibt es heute noch weniger als damals, trotzdem das Ministerium Lutz nach 
nichts sehnsüchtiger verlangt, als nach einer solchen Mittelpartei und bereit 
wäre, ihr alle nur denkbare Unterstützung von Seite der Regierung ange- 
deihen zu lassen. Was das Land davor bewahrt hat, daß der Kampf der 
Parteien sich nicht zu einem Kampf um die Regierungsgewalt gestaltete und 
nicht schließlich gar in vollen Bürgerkrieg ausartete, war das Interesse der 
Krone, die sich, wenn auch nicht über, doch außerhalb der Parteien stellte 
und den Kampf derselben auf das Gebiet der parlamentarischen Debatte und 
der Presse beschränkte. Zwischen die Parteien gestellt, neigte sich inzwischen 
das Ministerium Lutz entschieden nach der linken Seite hin: Hr. v. Lutz hielt 
in der II. Kammer gegen die Forderungen und die gesammten Anschauungen 
der ultramontanen Partei wiederholt einläßliche Reden, gegen deren Voraus- 
setzungen von liberaler Seite kaum etwas eingewendet werden konnte, die 
denn auch vielfach von der linken Seite der Kammer mit Beifall überschüttet 
wurden; aber seine schönen Reden blieben praktisch gänzlich unfruchtbar, indem 
der Minister sich überall, wo es nicht absolut unausweichlich war, wohl hütete, 
daraus die natürlichsten Consequenzen zu ziehen, selbst wo sie logisch noch so 
zwingend zu sein schienen, aus dem einfachen Grunde, weil ihm die Aufgabe 
gestellt war, nicht die Krisis herbeizuführen, sondern vielmehr eine solche um 
jeden Preis zu vermeiden. Ein ähnliches, aber mehr nach rechts neigendes 
Ministerium hätte es im Grunde nicht viel anders machen können und den 
entschiedenen Ultramontanen so wenig genügt, als das Ministerium Lutz den 
entschiedenen Liberalen. Wirklich dachte der König im Sommer 1872 an 
einen solchen Versuch. Als damals der Ministerpräsident und Minister 
des Auswärtigen, Graf Hegnenberg-Dux, unerwartet starb, beabsichtigte er, 
die Stelle mit dem bisherigen Gesandten in Stuttgart, Hrn. v. Gasser,
	        
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