610 slebetsicht der Ereignisse des Jahres 1872.
in der That um so mehr nur ein anscheinender gewesen, als die 30er Com-
mission am 6. Dec. neuerdings wieder von der Majorität der National-
versammlung ganz überwiegend aus Gegnern des Präsidenten zusammengesetzt
wurde, so daß ihm für die Durchführung seiner Plane in der That nur
sehr geringe Aussicht blieb. Bis Ende des Jahres kam es innerhalb der
Commission zu keinem Beschlusse. Hr. Thiers unterhandelte wiederholt per-
sönlich mit ihr, ohne indeß viel zu erreichen. Die Beschränkung seines di-
recten Einflusses auf die Nationalversammlung war und blieb ihr feststehen-
der Zielpunkt, während Hr. Thiers sich diesen zwar bis auf einen gewissen
Grad gefallen lassen wollte, aber nur um den Preis der sog. constitutio-
nellen Gesetze. Der Entscheid, der schließlich mit den Sturze des Hrn.
Thiers, der Ernennung des Marschalls Mac Mahon zum Präsidenten der
Republik und der Bestellung des Ministeriums aus der Coalition der Or-
leanisten, Legitimisten und Bonapartisten unter dem Präsidium des ehr-
geizigen Herzogs v. Broglie endigte, fällt erst ins folgende Jahr.
Groß und unläugbar sind die Verdienste des Hrn. Thiers um Frank-
reich. Seiner Erfahrung, seinem Ansehen, seiner trotz der Jahre unermüd-
lichen Arbeitskraft verdankt Frankreich die Bezwingung der Commune mit
ihren wilden Leidenschaften, die Wiederherstellung der Ordnung, die Re-
organisirung der gegen Ende des Kriegs völlig aufgelösten regelmäßigen
Verwaltung, die erste Formirung einer regulären Armee nach der Rückkehr
der Hunderktausende aus deutscher Gefangenschaft, ihm voraus die Wieder-
herstellung einer soliden Finanzwirthschaft, welche dann die großen Anlehen
und die regelmäßige Abtragung der Kriegsschuld an Deutschland ermöglich-
ten. Er war es, der aus dem Chaos die lebendigen Traditionen der fran-
zösischen Regierungskunst hinüberrettete und zu neuer Anerkennung brachte.
Ihm verdankte es Frankreich, wenn es sich, und nicht ohne Grund, wieder
zu fühlen anfing. Ohne Zweifel war er, wie alle Franzosen, fest über-
zeugt, daß das Resultat des letzten Krieges noch keineswegs endgültig über
das Verhältniß zwischen Frankreich und Deutschland und ihre gegenseitige
Stellung in Europa entschieden habe. Aber er ist zu viel Staatsmann und
hat doch in seinem langen Leben zu viel praktische Erfahrung gesammelt, um
das thörichte Revanchegelüste so Vieler zu theilen. Er weiß, daß Frankreich
einer Erholung, einer Sammlung bedarf, um es neuerdings mit der geeinig-
ten und stets wachsenden Kraft Deutschlands aufnehmen zu können. Da-
gegen wollte er wenigstens nichts versäumen, damit Frankreich so bald wie
möglich für den geeigneten Moment bereit sei. Das zeigt vor allem aus