Full text: Europäischer Geschichtskalender. Siebzehnter Jahrgang. 1876. (17)

102 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 29.) 
vertretung einschränken oder beschneiden wollten. Einmal müßte ein Ende 
gemacht werden; es sei nur zum Schaden einer Körperschaft, wenn sie sich 
in Dinge mische, in denen sie nicht competent sei und man thue nicht recht, 
wenn man mit solchen Fragen das Mitregieren versuche. Man habe nicht 
umhin gekonnt, darüber in Lamentationen auszubrechen, daß der gesetzliche 
Sinn immer mehr aussterbe. Wie könnten die, die beständig den gesetzlichen 
Sinn des Volkes untergraben, und die es sich zur Aufgabe gemacht güchen 
in gleißnerischer Sprache den Ungehorsam des Volkes zu unterstützen, ihnen 
(der linken Seite) das zum Vorwurf machen? (Großer Lärm! Hört!) Der 
Mensch könne viel ertragen, er (Redner) habe sich schon lange vorgenommen, 
auf derartige Provocationen nicht einzugehen, aber einmal reiße jedem die 
Geduld, sie (die Linke) könnten sich das nicht fort und fort nachsagen lassen, 
worin es die Rechte schon zu einer gewissen Gewohnheit gebracht habe. Welche 
Stirne gehöre dazu, zu sagen, der Staat sei der größte Verführer der 
Jugend. Er (Redner) wolle nicht so weiter fahren. Den Ton, der ange- 
schlagen worden, habe nicht er provocirt. Walter (ultr.): Er habe den Miß- 
brauch zu rügen, welcher von der Staatsregierung mit der Verkündigung des 
allerhöchsten Erlasses vom 15. October v. Js. getriehen worden sei. Die Art und 
Weise, wie die Verkündigung angeordnet worden, stehe seines Dafürhaltens den 
Gesetzen entgegen. Man hätte den Erlaß des Königs durch die Amtsblätter 
verkündigen können; dieß habe aber nicht zu genügen geschienen, denn man 
habe eine gewisse Stoßinsherz-Politik treiben wollen, man habe die rechte 
Seite, die Mehrheit des Hauses, beim Volke discreditiren wollen. Man 
habe daher Versammlungen der Bürgermeister veranstaltet und dabei den 
königlichen Erlaß in einer Weise ausgelegt, die ein tüchtiger Faustschlag in 
das Gesicht des katholischen Volkes gewesen. Man habe dem katholischen 
Glauben eins versetzen wollen. In Amberg habe der Bezirksamtmann zu 
den Bürgermeistern gesagt, die katholische Religion habe seit 1866 den Un- 
frieden in's Land gebracht, weil sie sich als alleinseligmachend ausgebe. Man 
habe ferner den Bürgermeistern sogar mit Strafen gedroht. wenn sie ein 
solches Vorgehen nicht billigen wollten, wie dieß dem Abg. Lerzer begegnet 
sei, weil er sich geweigert, den königlichen Erlaß vor die Gemeindeversamm- 
lung zu bringen und weil er ihn einfach an die Gemeindetafel angeheftet. 
Lerzer sei deßwegen mit 20 Mark disciplinarisch bestraft worden. Die Auf- 
fassung der betreffenden Entschließung sei eine vollständig unhallbare und 
ungesehliche, das Maß der Anforderungen an die Bürgermeister bemesse sich 
nur nach der Gemeindeordnung. Artilel 92 derselben verpflichte den Bürger- 
meister nur zur Ausführung von „competenzmäßig“ erlassenen Anordnungen, 
eine solche sei aber hier nicht vorgelegen. Nach Artikel 4 des Ministerver- 
antwortlichkeitsgesetzes seien Entschließungen ohne Gegenzeichnung sämmtlicher 
Minister nicht vollziehbar. Das Ministerium sei ungesetzlich vorgegangen 
und habe den Vollzug auf ungesetzlichem Wege erzwungen. Wo sei die Be- 
stimmung, die von den Bürgermeistern den unbedingten Gehorsam fordere, 
es gebe Ken unbedingten Gehorsam, ja der Verfassungseid schließe ihn so- 
ar eher aus. Der Gehorsam gegen das Geseh sei mit dem Gehorsam gegen 
die Behörden keineswegs identisch. Hüte man sich wohl, die Consequenz 
dieser Sache wäre der Tod der Freiheit, der nackteste Absolutismus, den sie 
(die Linke) nicht wollen könnten und dürften, wenn sie die wahre Freiheit 
wollten, die niemals einer Partei gehöre, sondern allen gemeinsam sei. Der 
Bezirksamtmann in Amberg habe sich bei Auslegung des königlichen Erlasses 
auch über die Betschwestern ausgelassen (Heiterkeit) und ganz ungeeignete 
Aeußerungen gethan. Am Ungesetzlichsten aber sei es in Velburg zugegangen, 
wo sich der Bezirksamtmann in ganz unwahren Anklagen und Verdächtig- 
ungen gegen den katholischen Clerus ergangen, indem er zu den Bürger-
	        
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