Full text: Europäischer Geschichtskalender. Siebzehnter Jahrgang. 1876. (17)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 5—7.) 111 
5. April. (Preußen.) Den Altkatholiken wird die kath. 
Kirche in Wiesbaden zum Mitgebrauch übergeben; dieselben erringen 
auch in Zobten a. B. den Mitgebrauch der Sct. Annakirche, in 
Neisse den Mitgenuß der Kreuzkirche. 
6. April. (Baden.) II. Kammer: ein von dem Staats- 
minister Jolly in die Enge getriebener Ultramontaner läßt sich zu 
dem bemerkenswerthen Geständniß herbei, 
„daß ein canonisches Hinderniß gegen die Mitbenutzung der katholi- 
schen Kirchen seitens der Altkatholiken nicht bestehe“. Da der römische Clerus 
nun den Besuch der den Altkatholiken zugewiesenen Kirchen meidet und ver- 
bietet, so, schließt der Minister, hälten Alle, die sich in der Ausübung ihrer 
religiösen Bedürfnisse beschwert fühlen, nicht an die Regierung und nicht 
an die Landeskammer, sondern lediglich an den Erzbisthumsverweser in Frei- 
burg um Abhülfe sich zu wenden, damit dieser ein Verbot aufhebe, das 
lediglich den Herrschaftsgelüsten der Curie zu dienen bestimmt sei. 
7. April. (Deutsches Reich.) Die Beängstigung, mit wel- 
cher sich ein Theil der Presse bei Gelegenheit des Gerüchtes von einer 
angeblich bevorstehenden Thronentsagung des Kaisers Alexander aus- 
sprach, weil sie von derselben eine Aenderung in den Beziehungen 
Rußland's zu Preußen, bezw. Deutschland wegen der — ob mit 
Recht oder Unrecht — für wenig deutschfreundlich geltenden Ge- 
sinnung des Großfürsten Thronfolgers voraussehen zu sollen glaubt, 
gibt der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung Anlaß zu einem be- 
merkenswerthen, augenscheinlich hochofficiösen Artikel über jene Be- 
ziehungen. 
.Heute hat man begriffen, daß zwischen Preußen-Deutschland 
und Rußland eine Identität der Interessen besteht, welche von den 
persönlichen Sypathien der Zeitweilig regierenden Herrscher nicht abhängig 
ist. Die „Nordd. Allg. Ztg.“ würde sicherlich das letzte deutsche Blatt sein, 
welches für ein aufrichtiges und inniges Freundschaftsverhältniß mit Ruß- 
land nicht mit ganzer Entschiedenheit einträte, Aber eben darum glauben 
wir ein Recht zu haben, die deutsche Presse davor zu warnen, ebenso wie sie 
1853 und 1863, die Freundschaft Rußlands unterschätzte, dieselbe jetzt nicht 
zu überschätzen, sondern nach ihrem wahren und nvolle  Werthe zu messen. 
Eine Freundschaft ist nur dann eine echte und wahre, wenn sie auf gegen- 
seitiger Achtung beruht. Die Achtung, welche der deutsche Name, beson- 
ders nach den Erfolgen des letzten Jahrzehnts, in Rußland erworben, kann 
aber leicht beeinträchtigt werden, wenn die deutsche Presse bei jedem vor- 
handenen oder nicht vorhandenen Anlaß die Freundschaft Rußland's als eine 
Existenzfrage für Deutschland behandelt. Das ist sie nicht. Seit Peter dem 
Großen weist ein durch die Theilung von Polen noch mehr gefestigtes tra- 
ditionelles Interesse Rußland und Deutschland auf gegenseitige freund- 
schaftliche Beziehungen an. Dieselben sind — und zwar nur russischerseits 
einige Male auf kurze Zeit unterbrochen worden, wenn persönliche Ein- 
flüsse  des Herrschers oder der regierenden Herrscherin das politische Interesse 
Landes überwogen. Einen Vortheil bat Rußland davon nie gehabt. 
Es hat sich im Gegentheil davon überzeugt, daß der damals noch kleine 
 
	        
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