Aerbersicht der pelilischen Eninidlung bes Jehres 1876. 581
lichen Interesse auszubeuten. Das eine wäre so schwierig wie das
andere. Am allerschwierigsten aber wäre es, die europäischen Mächte
zu einem solchen Einverständniß zu bringen, das auch nur einige
Dauer verspräche. Ohne ein solches Einverständniß aller Mächte
gegenüber Rußlands noch mehr als gegenüber der Türkei, bleibt wohl
nichts anderes übrig, als im Einverständniß und unter Mitwirkung
Rußlands selber zu versuchen, wie weit es möglich sein werde, die
Pforte, halb freiwillig, halb gezwungen zu Zugeständnissen an die Ra-
jahs zu vermögen, um wenigstens Rußland davon abzuhalten, die Frage
allein und durch das Mittel der Gewalt in die Hand zu nehmen.
Das war es denn auch, was die drei Ostmächte bis zum Mai 1876
versuchten und was ihnen vielleicht bis zu einem gewissen Grad ge-
lungen wäre, wenn die übrigen Großmächte sie wie bis dahin unter-
stützt, ihnen wenigstens nicht hemmend in den Weg getreten wären.
Durch das plötzliche Auftreten Englands aber zu Gunsten der Türkei
und gegen Rußland wurde der Versuch der Ostmächte zum Scheitern
gebracht und die orientalische Frage selbst, d. h. der Kampf der Mächte
über die Erbschaft der Türkei, heraufbeschworen. Ob England da-
durch seine eigenen Interessen gefördert oder geschädigt hat, wird erst
die Zukunft lehren. Inzwischen hat der weitere Verlauf der orien-
talischen Frage bis zum Schlusse des Jahres 1876 jedenfalls erwiesen,
daß dieses Auftreten Englands im Mai d. J. ein voreiliges und
wenig überlegtes war: der Friede Europas wurde dadurch schwer ge-
schädigt und nicht minder wurden es die Interessen der christlichen
Bevölkerungen der Türkei, für welche doch England stets einige
Sympathie und einiges Wohlwollen an den Tag gelegt hat, wenn
auch solche freilich seinen eigenen Interessen, sobald diese ins Spiel
kommen, rasch und ohne Bedenken geopfert werden.
So viel ist sicher, daß Rußland, das bei dem anerkannt fried- ußland
fertigen Character des Kaisers Alexander bisher bezüglich der tür-
kischen Wirren nur mit den beiden anderen Großmächten vorgegangen
war und keine Absicht verrathen hatte, die ganze orientalische Frage
aufzurühren, erst durch den provocirenden Schritt Englands veran-
laßt wurde, zu derselben eine andere Stellung als bisher einzuneh-
men. Bis dahin waren seine Augen neben der Türkei namentlich
auf Mittelasien und auf Polen gerichtet. Seine Politik in Mittel-
asien fand gerade damals allerdings eine Art Abschluß. Am 27.
Februar 1876 zogen seine Truppen siegreich in Chokand ein und
am 2. März befahl ein Ukas des Kaisers die Einverleibung des