Full text: Europäischer Geschichtskalender. Siebzehnter Jahrgang. 1876. (17)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 27.) 53 
aufreizen, alle ihre Ansichten zu entwickeln, die sie zu entwickeln im Stande 
sind. Der Kern der Wahrheit darin wird sich dann schon Bahn brechen. 
Das aber, was sich nicht als wahr erweist, wenn es auch von den Einzelnen 
vielleicht für richtig gehalten wird, das wird eben den Kürzeren ziehen. 
M. H. Sind denn die Sozioldemokraten wirklich jetzt so besonders ge- 
fährlich, liegt denn jetzt plötzlich eine Bewegung vor, wie von der andern 
Seite gelehrt wird, die man früher nicht gekannt hat? Wer die Geschichte 
studirt hat, weiß, daß seit Jahrtausenden über das, was die Leute jetzt ver- 
künden, asiatische und europäische Völkerschaften überall von Zeit zu Zeit 
emäß der nach Art der menschlichen Natur sich ansammelnden Unzufrieden- 
heit, in Lehre und auch sogar in der That sich geäußert haben. Wir sind 
sogar jetzt in dem Vortheil, daß die Aussprüche, die zur Gewalt ihre Zu- 
flucht nehmen, gegen den Staat nicht mehr so häufig vorkommen, oder doch 
schneller zurückgewiesen werden, so daß uns also diese allgemeine Furcht nicht 
mehr beherrscht. Ich rufe die Herren hier zu Zeugen an, daß diejenigen, 
die vor Jahren noch gemeint haben, die socialdemokratische Bewegung fei 
von unmittelbarer Gefahr für Deutschland, heute hierüber viel geringer 
denken. (Theilweiser Widerspruch.) Es regt nicht mehr so viel auf, denn 
das Ding hat den Charakter der Neuheit verloren. Wenn es menschlicher 
Weisheit möglich gewesen wäre, wie von jenen angestrebt wird, die Unzu- 
friedenheit der Menschen durch Gesetze oder auch sonst zu entfernen und eine 
Ordnung aufzustellen, in der die Gleichheit herrschen soll, wie hier an- 
gestrebt wird, so zweifle ich nicht, daß dies längst vollbracht worden wäre; 
denn daß diese Ansichten jeder Zeit bekannt waren und bei den Unglücklichen 
immer mit Recht Anklang gefunden haben, das wird Niemand — der 
die weltliche und die heilige Geschichte kennt. Aber der innern Natur 
ist der Mensch darauf angewiesen, dabß er von der ursprünglichen Ungleich- 
heit der menschlichen Gesellschaft nach und nach sich herausbildet und immer 
mehr derjenigen Gleichheit entgegenstrebt, welche jeder ideale Mensch vor 
Augen hat. Diese Bewegung werden wir nicht zurückhalten und sie wird 
nicht gefördert werden können durch willkürliche Agitationen, sondern durch 
die Verbesserung der Menschen vom Haupt bis zum Herzen, eine Bewegung, 
von der ich glücklich sein würde, wenn ich nur die Sicherhet hätte, daß sie 
auch nur in absehbaren Jahrhunderten zum Abschluß kommen würde. 
aber, wie ich aus der Geschichte  überzeut bin, zu jeder Zeit ihre Fortschritte 
macht und das Loos der Menschen verbessert. Ich weise den Gedanken ganz 
zurück, der im Namen der Religion oder der Philosophie eine gesellschaftliche 
Ordnung predigt, wonach bestimmte Menschen immer verurtheilt sein müßten, 
ein unglückliches Leben zu führen, andere dagegen sich beständig eines glück- 
lichen Lebens erfreuen können. Der men söliche Fortschritt besteht, denke ich, 
gerade darin, daß der Kreis der Menschen, welche sich in den Gütergenuß 
des Lebens theilen, sich fort und fort erweitert. Das wird freilich nur durch 
ernste Arbeit erreicht, nicht durch leicht entworfene Reden oder dadurch, daß 
man den Menschen nur zeigt, wie unglücklich sie sind. Unsere Aufgabe ist 
es vielmehr, die Menschen darauf hinzuweisen, welcher Genüsse man fähig 
ist, wenn man die weltlichen Dinge nicht ganz äußerlich und lediglich von 
dem oberflächlichsten Genußstandpunkt auffaßt. Darum eben verlangen wir 
freie Diskussion. Jeder komme her und schütte sein Herz aus, die Klagen 
sollen offen geführt werden, sonst können wir sie nicht widerlegen, Verdienen 
die Zustände nicht fortzubestehen  so sind wir im Stande, durch die Macht 
der Logik zu zeigen, daß wir trotz des besten Willens nicht helfen können, 
und dann besteht keine Gefahr für die Gesellschaft; soll etwas Anderes 
die Stelle der unhaltbaren Zustände gesetzt werden, so soll Jeder im Volke 
an seinem Theile mitwirken, und dazu bedürfen wir wiederum der freien
	        
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