Full text: Europäischer Geschichtskalender. Siebzehnter Jahrgang. 1876. (17)

Nebersicht der polilischen Eslwichluns des Jahres 1876. 585 
begegnen werde. Denn auch innerhalb der nationalgesinnten Par- 
teien waren die Ansichten über die Frage sehr getheilt und nicht zu 
übersehende starke Strömungen sprachen sich schon jetzt entschieden 
gegen den Plan aus und zwar aus rein volkswirthschaftlichen Be- 
weggründen. Daß aber die sog. reichsfeindlichen Parteien d. h. 
diejenigen, welche von vorn herein jeder Stärkung des Reichs und 
der Reichsgewalt gründsätzlich widerstreben, die ultramontane und 
die social-democratische Partei, dem Plane auf's heftigste entgegen 
treten würden, verstand sich ganz von selbst. Eine Folge dieser Lage 
war, daß die Mittelstaaten auf den naheliegenden Gedanken kamen, 
die auf ihrem Gebiet liegenden Privatbahnen für den Staat zu er- 
werben und sich so gewissermaßen zu arrondiren, um dem Reichs- 
eisenbahnproject desto kräftiger entgegen treten zu können. Der Reichs- 
kanzler ließ sich indeß dadurch in seinem Plane nicht beirren. Schon 
am 8. Januar 1876 schlug er dem preußischen Staatsministerium vor, 
vom Landtage die Ermächtigung zu Unterhandlungen mit dem Reiche 
über die Abtretung sämmtlicher preußischer Staatsbahnen an das- 
selbe zu verlangen. Das preußische Staatsministerium erklärte sich 
damit einstimmig einverstanden und die Vorlage gelangte am 25. März 
an das preußische Abgeordnetenhaus. Die Motive desselben brachten 
zuerst eine einläßliche Darlegung der unläugbaren großen Mängel 
des bestehenden Eisenbahnwesens und deuteten schließlich in sehr ver- 
ständlicher Weise an, wohin es führen müßte oder doch könnte, wenn 
Preußen auch seinerseits auf das System der Mittelstaaten zurück- 
gehen und nur seine Interessen zu Rathe ziehen würde, d. h. daß 
es, sobald es wollte, so ziemlich in der Lage wäre, das gesammte 
deutsche Eisenbahnwesen zu beherrschen, ein Gesichtspunkt, der aller- 
dings sehr geeignet war, die Mittelstaaten zum Nachdenken zu ver- 
anlassen und die allgugroße souveräne Hitze derselben, namentlich 
Sachsens, wesentlich abzukühlen. Beide Häuser des preußischen Land- 
tages gewährten ihre Zustimmung zu der Vorlage der Regierung, 
die inzwischen sich damit zufrieden gab und im Laufe des Jahres 
1876 keinen weiteren Schritt mehr in dieser Beziehung that, so 
daß es mehr oder weniger zweifelhaft blieb, ob der Reichskanzler 
gewillt ist, seinen Plan einer Erwerbung der deutschen Staatsbahnen 
für das Reich jetzt schon und trotz alles Widerstrebens weiter zu 
verfolgen, oder ob es ihm möglicher Weise zunächst nur darum zu 
thun ist, den Widerstand gegen die Vereinbarung eines den gemein- 
samen Interessen aller Theile der Nation entsprechenden, genügend
	        
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