Full text: Europäischer Geschichtskalender. Siebzehnter Jahrgang. 1876. (17)

56 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 29.) 
nachsagt oder ihn in seiner Ehre schädigt, so wird er bestraft; thut er das- 
selbe in Bezug auf die Anordnungen des Staates und der Obrigkeit, dann 
muß erst nachgewiesen werden, daß er das Bewußtsein der Falschheit der 
Thatsachen gehabt hat. Das faktische Resultat davon ist, daß jeden Tag 
die gröbsten Beschimpfungen des Reichs und des Staates in der Parteipresse 
vorkommen, ohne daß die Möglichkeit eines Einschreitens vorliegt. Ich spreche 
hier aus meiner dreijöhrigen Erfahrung in meiner Stellung in Darmstadt, 
in der ich fortwährend die sehr unerquickliche Aufgabe habe, die Presse 
ihrer Wirksamkeit zu beobachten, und ich kann danach versichern, daß das 
Reich jeden Tag in der schändlichsten Weise als ein Reich der Sünde, der 
Knechtschaft, der Tyrannei, der Volksaussaugung hingesellt wird u. s. w. 
Bedenken Sie doch, daß wir kein alter Staat sind, daß bei uns die Ehr- 
furcht vor dem Staat und den Staatseinrichtungen, wie sie in andern Län- 
dern, z. B. in England, bei allen Parteien herrscht und sie bei ihren Agi- 
tationen einschränkt, noch nicht vorhanden ist, daß die Ehrfurcht und Achtung 
vor dem Reich im Volke erst geschaffen werden muß, und Das, glaube ich, 
wird systematisch verhindert durch das Bestreben der Parteien, dem Reiche 
gegenüber in der Bevölkerung kein anderes Gefühl aufkommen zu lassen, als 
das des Hasses und der Verachtung. Ich glaube, das Reich hat doch An- 
spruch darauf, in seiner Ehre, in dem Ansehen, das es genießt und genießen 
muß, mindestens ebenso geschützt zu sein, als die Kirche. Ich halte den die 
Kirche schützenden § 166 des Strafgesetzbuches für gerechtfertigt, aber warum 
soll Jemand, der den Staat oder Staatseinrichtungen beschimpft, nicht ebenso 
bestraft werden: Es ist sonderbar, daß, während der Staat die Interessen 
der Kirche schützt und sie zu schützen gezwungen ist, er von der ultramon- 
tanen Presse geschmäht werden kann. Man sagt, die Presse selbst enthalte 
auch das Gegengift. Wenn ein ultramontanes oder socialdemokratisches Blatt 
das Reich beschimpft, so ist es kein Gegengift, wenn liberale Blätter die Kirche 
beschimpfen; so ist aber die Gegenwirkung der Presse, ich betrachte sie * 
genau. Je schärfer die ersteren Blätter angreifen, um so schärfer repliciren 
die liberalen, und zwar hetzt Jeder die eigene Partei. Die Presse wirkt nicht 
in diesem Sinne als Gegengift, daß der andere Theil sich beruhigt, sondern 
die Presse hetzt nur die eigene Partei noch mehr auf und Das ist auf dem 
confessionellen Boden sehr gefährlich. Ich bin nicht sehr ängstlich, ich ver- 
traue nicht sowohl der Einwirkung der Presse gegenüber den socialdemokra- 
tischen und ultramontanen Bestrebungen, sondern ich vertraue auf das ge- 
sunde Phlegma, das in unserm Volke herrscht und von dem es noch einen 
großen Vorrath hat. Wenn dieser einmal aufgezehrt ist, wenn es sich in 
Pathos umgesetzt haben wird, wird es sehr schwer sein, in Deutschland die 
Ordnung aufrecht zu erhalten. Es ist ein Fonds von Rohheit in unserem 
Volke vorhanden, von dem sich in den Motiven zu der Strafgesetznovelle 
haarsträubende Beispiele finden; ich häkte zur Ehre der Nation gewünscht, 
daß sie nicht möglich gewesen wären. Es ist aber manchmal gut, wenn man 
sich so etwas klar macht. Die Parteien gehen immer weiter, und wenn sie 
zu dem Punkte gelangt sein werden, wo das Phlegma ganz aufgegehrt ist, 
wird vielleicht uns gegenüber die Pariser Commune eine harmlose Gesellschaft 
sein. (Große Heiterkeit.) 
29. Januar. (Deutsches Reich.) Reichstag: Fortsetzung 
der Berathung der Strafgesetznovelle: Der sog. Arnim-Paragraph 
wird in der modifizirten Fassung des Abg. Marquardsen in nament- 
licher Abstimmung mit 179 gegen 120 Stimmen angenommen. Die 
Fractionen stimmen dabei geschlossen: mit Ja die Nationalliberalen, 
  
3
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.