88 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 1 u. 2.)
namentlich darauf hin, daß ein die Bedürfnisse der Nation befrie-
digendes Reichseisenbahngesetz durch die Opposition der Mittelstaaten
vereitelt worden, daher dem Reiche nichts anderes übrig geblieben
sei, als die Frage einer Erwerbung der Eisenbahnen durch das Reich
ernsthaft ins Auge zu fassen.
Bei der Begründung des Reichseisenbahnamts wurde dieser neuen Reichs-
behörde als Aufgabe vorgezeichnet, den Bestimmungen der Reichsverfassung
über das Eisenbahnwesen entsprechend, ein deutsches Eisenbahngesetz auszu-
arbeiten und nach der Einführung desselben die Aufsicht über die Ausführung
der gesetzlichen Bestimmungen zu führen. Der erste Präsiden! des Reichs-
eisenbahnamts, Scheele, legte einen Eisenbahngesetzentwurf dem Bundesrath
vor, welcher von den Bundesregierungen verworfen wurde, scheinbar in Folge
gewisser sachlichen Mängel des Entwurfs, thatsächlich jedoch aus Gründen
politischer Natur. Scheele erkannte, daß ein verbesserter Gesetzentwurf eben
so wenig auf Annahme rechnen könne wie der von ihm vorgelegte und nahm
seine Entlassung. An seine Stelle trat im Jahre 1874 der Präsident May-
bach, welcher im April 1875 einen neuen Gesetzentwurf vorlegte, in dem auf
die particularistischen Tendenzen der Bundesregierungen, soweit dies über-
haupt anging, Rücksicht genommen war. Die Vorberathung, welche auf Ver-
anstalten des Präsidenten Maybach zwischen Verkretern der Bundesregierungen
über den neuen Gesetzentwurf stattfand, bewies jedoch, daß die Bundesregie-
rungen sich allenfalls ein einheitliches Eisenbahngesetz, bestimmt für die deut-
schen Privatbahnen. gefallen lassen, daß sie aber nicht nur aus rein politi-
schen, sondern auch aus materiellen Gründen von den einheitlichen Bestim-
mungen ihre eigenen Bahnen ausgeschlossen wissen wollen. Die Vertreter
der einzelnen in Frage kommenden Regierungen bekonten, daß die financiellen
Erträge der Staatsbahnen durch Einführung des vorliegenden Eisenbahnge-
getzentwurfs vermindert werden könnten und erklärken deßhalb: daß ein Gesetz,
in welchem Staats= und Privatbahnen gleichmäßig behandelt werden, nie-
mals im Interesse der Landeswohlfahrt würde die Zustimmung ihrer Regie-
rungen erhalten lönnen. Die Situation wurde dadurch wesentlich geklärt.
Ein Reichseisenbahngesetz, welches gleichmäßige Bestimmungen für Privat-
und Staatseisenbahnen vorschrieb, durfte auf die Zustimmung der Bundes-
regierungen, und zwar aus particularistischem Interesse, nicht rechnen, und
andererseits durfte ein Eisenbahngesetz, welches sich mit einheitlichen Normen
für die deutschen Privatbahnen begnügte, nicht auf die Zustimmung des
deutschen Reichstags rechnen. Die Reichsregierung erkannte, daß die Herstel-
lung eines Eisenbahngesetzes unmöglich sei, und legle sofort nach der erfolgten
Vorberathung seitens der Vertreter der Bundesregierungen den Plan, ein
Reichseisenbahngesetz zu schaffen, beiseite. Es gingen freilich durch die Presse
während der folgenden Monate, bis zum September, Gerüchte über eine vom
Reichseisenbahnamt in Angriff genommene Revision des neuen Entwurfs;
diese Gerüchte wurden nicht dementirt, weil kein zwingender Grund dazu
vorhanden war, thatsächlich aber waren sie unbegründet. Die bezüglichen
Kreise der Reichsregierung erwogen während jener Zeit: in welcher Weise
sich eine Grundlage schaffen ließe, die eine gleichmäßige einheitliche Gesetzge-
bung für das Ehenbahnwesen in Deutschland ermöglicht. Und bei diesen
Erwägungen gelangte man zu dem Resultat, daß ein 3
nur dann einzuführen sei, wenn das Reich selbst die wichtigsten deutschen
Bahnen erwirbt. In dieser Weise gelangte die Idee, betreffend den Erwerb
der deutschen Eisenbahnen für das Reich, zum Durchbruch.
1. u. 2. März. (Preußen.) Abg.-Haus: ein Sturmlauf der