Tebersicht der yolilischen Eulwichelsug des Jahr es 1877. 481
durchdringen hätten. Ich habe also nichts gegen die Abtrennung
der Finanzverwaltung von unserem jetzigen preußischen Ministerium.
Besteht doch auch ein mit dem preußischen concurrirendes Reichs-
justizministerium. Wir haben sogar früher in Preußen zwei Justiz-
ministerien gehabt, das eine für die Verwaltung, das andere für
die Gesehgebung. Es ist nur einer außerordentlichen Arbeitskraft
mmöglich, beide gleichzeitig zu leiten. Also auch dort könnte ein
Reichsjustizminister mit dem preußischen Justizminister in ein nahes
Verhältniß treten, in demselben Collegium sitzen, ohne sich gegen-
seitig in ihrer Thätigkeit zu hemmen. Ich will nicht behaupten,
daß eine solche Institution ein Ideal sei, aber sie ist erreichbar,
während ich fürchte, daß ein losgelöstes Reichsministerium immer
in der Luft schweben würde. Nur im vollkommenen Jenseits könnte
ich mir ein solches Ministerium denken, aber mit dem heutigen deut-
schen Blute werden wir nicht dazu kommen, es wird immer so theo-
retisch, ich möchte sagen, so ätherisch in seiner Ausbildung werden,
daß es sich allmählich verflüchtigt. Ich möchte nun bitten, daß die
öffentliche Meinung nicht etwa in den Irrthum verfalle, daß ich
daran dächte, die Skizze, die ich soeben mehr als eine Kritik des
Bestehenden denn als Bild des zu Erstrebenden gegeben habe, heute
oder morgen zu realisiren. Ich halte es überhaupt nicht für mög-
lich, energisch nach einer solchen Richtung vorwärts zu gehen, und
ich möchte auch nicht, daß wir uns in die Discussion darüber allzu
sehr vertieften. Die Gegenwart gibt uns Stoff genug zu Debatten,
und wenn wir hier heute schon Das vorwegnehmen, was wir vielleicht
über ein Jahr in der Steuerreform und später in der Ausbildung
von Reichsministerien, die aber durch die kanzlerische Verantwort-
lichkeit gedeckt sind, zu thun beabsichtigen, dann werden wir nicht
fertig. Ich bin augenblicklich von keinem andern Interesse beseelt,
als das uns vorliegende Budget mit möglichst wenigen Abstrichen
und zu möglichst hoher Zufriedenheit von Seiten des Reichstages
durchzubringen und ich bin durch die Darlegung der Zukunftgedan-
ken — oder nennen Sie es meinethalben Träumereien: ich habe das
Recht, zu träumen, so gut wie jeder Andere — von dieser con-
creten Aufgabe in keiner Weise abgekommen. Ein Rückblick auf die
Vergangenheit wird Ihnen zeigen, daß die junge deutsche Einheit in
zehn Jahren und namentlich in den fünf Jahren, seitdem wir das
Reich in seiner Vollständigkeit haben, in ihrem Wachsthum Fort-
schritte gemacht hat, auf die wir früher nicht gehofft boben- Ver-
Schulthess. Euxrop. Geschichtskalender. XVIII. Ld.