108 Das deulsche Reich und seire einzelnen Glieder. (Juni 28.)
und glücklich erhaltene enropäische Mandat nach all den bisherigen Ableug-
nungen theils verblüfft, theils erbittert. In Deutschland dagegen wird der
Entschluß Oesterreichs vielfach als ein halb und halb deutscher Erfolg an-
gesehen. So urtheilt ein juddeniges Blatt: vreiterreich gelt nach Osten, es
legt sich nach dem Beispiel Rußlands auf der Balkanhalbinsel
jest und verliert natürlich an Bedeutung und Aktionsfähigkeit
für die eigentliche europäische Politik. GEs begeht politisch vielleicht
einen Fehler, namentlich auch dadurch, daß es die kleinen Nachbarn Serbien
und Montenegro weder zu befriedigen noch niederzuhalten verstanden hat.
Es wird jetzt auch den Landstrich zwischen beiden Fürstenthümern, das so-
genaunte Rascien, nehmen, aber es wird dafür in Belgrad wie in Cetinje
gründlich gehaßt werden. Das ist nun seine Sache. Wichtiger ist, daß das
Dreilaiserbündniß von seinem Scheintode wieder erstanden ist und daß
Deutschland in demselben das führende Schiedsamt verwaltet. Freilich auf
Kosten der Türlei, welcher Fürst Vismarck mit der ihn auszeichnenden Un-
umwundenheit! nach den „Ekappen“ von 1828, 1853 bis 1856, 1876 bis
1878 noch weitere Elappen für dieses Jahrhundert in Aussicht gestellt hat.
Hoffentlich dann die letzten; unsere Volkswirthschaft erträgt die orientalische
Frage nicht mehr lange. Oesterreich aber macht unbeschadet einer gewissen
westeuropäischen Schwächung volkswirthschaftlich und sozial-politisch einen
beneideuswerlhen Erwerb in einem neuen Gebiek für sein Geld und Menschen=
material. Was wäre für unsere Vollswirthschaft und unsere soziale Frage
ein Land wie Vosnien oder überhaupt ein größerer Kolonialbesitz werlh?
Aber wir Deutsche sind trotz des schlechten Standes unserer Poesie und des
gläuzenden Standes unserer DTiplomatie noch immer wie der Schillerssche
Poet bei der Theilung der Erde: uns zeigt man den abgegessenen Tisch.
Aber wir werden wieder eine Kolonialpolitik im Style der groszen Vranden-
burger Kurfürsten haben müssen und zwar noch in diesem Jahrhundert,
Sonst ersticken wir in unserm eigenen Hause.“
Auf die Schwierigkeiten der Occupation Bosniens durch Ocsterreich
wird dieses schon jetzt sehr nachdrücklich aufmerksam gemacht. „Öb die offi-
cielle Pforte sich mit Waffengewalt dem österreichischen Einmarsch widersetzen
wird oder nicht, kann mit Bestimmtheit nicht gesagt werden. So viel aber
ist gewiß, daß die bosnischen Muhamedaner alle bewaffnet und schwerlich
entschlossen sind, beim Herannahen österreichischer Truppen die Waffen weg-
zuwerfen. Man vergesse doch nicht, daß in Bosnien 00,000 Muselmanen
auf 40,000 Christen kommen und daß die Halte der Christen nicht römisch-
katholisch, sondern griechisch-orthodox ist, Sesterreich also nur bei einem ge-
ringen Bruchtheile der Bevölkerung auf Eutgegenkommen rechnen darf. Wenn
es nun die Moslems in Bosnien unternehmen sollten, was immerhin mög-
lich ist, als geschlossene Nakionalmiliz aufzutreten und, jobald die österrei-
chischen Truppen die Grenzen überschreiten, den bosnischen Christen die Wahl
zwischen Tod und Auschluß au bewassneten Widerstand zu stellen, so wird
die Occupation Bosniens ein recht blutiges Stück Arbeit werden und man-
ches Taujend österreichischer Soldaten kann bei dieser Arbeit zu Grunde gehen.
zeun aber die Arbeit gethau sein wird, so hat Oesterreich eine neue Pro-
vinz, die mehr Trümmerhaufen als Orsschaflen, mehr Einöden als Land-
straßen zählen und die an den öslerreichischen Staatsseckel Jahrzehnte lang
Forderungen stellen wird, welche nicht befriedigt werden können, ohne daß
man die Stammländer aufs allerempfindlichste schädigt. Bei jedem Kriege
aber, den Oesterreich an irgend einer Grenze zu führen haben wird, dürfte
es eine belrächtliche Truppenzahl zur Sicherung seiner Südgrenzen verwen-
den müssen. Serbien, die Bulgarei und Montenegro werden die Unabhän-=
gigleit Bosniens und dessen Eintritt in den südflavischen Slaalenbund un-