Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

150 Das deutsche Reich und seine einselnen Glieder. (Oct. 1—2.) 
artig bescheiden in Bezug auf Abänderungen zum Regierungsentwurf ver- 
halten, daß man vielleicht- annehmen durfte, es jei für die übliche Neigung 
der Mehrheit, bei zweiten Lesungen sich dem Regierungsstandpunkt noch weiter 
zu nähern, kaum noch genügender Spielraum gelassen. Diese Annahme hat 
sich aber diehmal nicht bestätigt. Abgesehen davon, daß ein Amendement, 
welches nach ausgeschriebenen Wahlen den Sozialisten Wahlversammlungen 
gestatten wollte, mit Stimmengleichheit abgelehnt wurde (Lasker und Ven- 
nigsen dafür) strich man überall mit 11 gegen 9 Stimmen (Lasker stimmte 
mit der Minderheit, Bennigsen und die übrigen Nationalliberalen mit der 
Mehrheit# den in erster Lejung angenommenen Zusatz, wonach die sonst für 
Polizeiverfügungen bestehenden Rechtskontrolen (Berufung an die Verwaltungs- 
gerichte) auch gegen Polizeiverfügungen auf Grund dieses Gesetzes Geltung 
haben sollten. Dieselbe Mehrheit beseitigte auch das Erforderniß einer vor- 
herigen Verwarnung für die Unterdrückung einer periodischen Truckschrist. 
Minister Enlenburg erklärte, daß die Regierungen „nicht in der Lage seien“, 
diese kleine Einschränkung anzunehmen. Ausgeschlossen blieb nur durch die 
Fassung die vom Minister Graf Eulenburg dem Regierungsentwurf gegebene 
Auslegung, wonach schon die Haltung eines Blaltes vor Erlaß des Gesetzes 
zum Verbot desselben genügen jollte, auch wenn das Blatt nach dem Er- 
scheinen des Gesetzes sich den Ton des Reichs aanzeigers zum Muster nimmt. 
Denn, sagte der Minister, die „Tendenz kennen wir", die Annahme einer 
Wandlung im Herzen ist ausgeschlossen und weichliche Rücksichten müssen 
ausgeschlossen bleiben. Der & 1 des Gesetzes blieb zwar im Wesentlichen in 
der Lasker'schen Fassung aus der ersten Lesung bestehen, doch verharrten Con- 
servative und Regierung in ihrem Prolest gegen die von Lasker übergebenen 
Motive zu seiner Fassung. Bennigsen erklärt, daß, da über Motive nicht 
abgestimmt werden lönne, die Auslegung eines Jeden „nur subjektiv“ sei. 
Eine weitere Verschlechterung gegen die Beschlüsse erster Lesung wurde (Lasker 
blieb auch hier in der Minderheit) dahin vorgenommen, daß die Befugniß 
zur Verbreitung von Druckschriften statt auf Grund des Gonzessionsveriahrens 
(in Preußen vor Verwaltungsgerichten) einfach von der Polizeibehörde ab- 
erkannt werden kann, und daß nicht nur bei Wirthen, sondern auch beie 
Druckern und Buchhaͤndlern das Gericht die Befugniß zum Gewerbebetrieb 
entziehen kann. Die Geschäftsordnung der als oberste Beschwerde-Instanz; 
eingesetzten Commission wurde der Bestätigung des Bundesraths unterworfen. 
Endlich wurden die Regierungen von der Rechenschaft vor der Landesver- 
tretung bei Berhängung des sog. kleinen Belagerungszustandes entbunden; 
nur vor dem Reichstage sollen sie sich verantworten müssen. Hiernach blieb 
als Differenzpunkt den Negierungen gegenüber, abgesehen von der wenig in 
Betracht kommenden Frage, ob die oberste Beschwerdekommission mit etwas 
mehr oder weniger richterlicher Beimischung gebildet werden soll, nur die 
Frage der Gilligkeilsdauer des Gesetzes übrig. Die Commission bewilligte 
2½ Jahre, der Minister verlangte, „wenn das Gesetz nicht zu Fall kommen 
soll“, 5 Jahre, den arithmetischen Compromiß zwischen 21½ und 5 zu finden, 
wird also den Nationalliberalen im Plenum übrig bleiben. Lasker erklärte, 
bei der Schlußabstimmung über das Geseh im Ganzen sich der Abstimmung 
zu enthalten. Alles politische Interesse knüpft in diesem Angenblicke an 
dieses Gesetz au. Und doch ist es eigenklich nicht das Gesetz selbst, sondern 
die Stellung der nationalliberalen Partei zu demselben, was vorzugsweise 
interessirt. Das Gesetz selbst wird unzweifelhaft zu Stande kommen; eignet 
sich die Mehrheit einmal die Anschauungsweise des Gesetzentwuris an, daß 
eine einzelne politische Parteirichtung unter Umständen durch Polizeimittel 
zu unterdrücken sei oder unterdrückt werden könne, so erscheinen die Form- 
fragen, über welche die Commission nunmehr zwei Wochen hindurch verhandelt 
 
	        
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