150 Das deutsche Reich und seine einselnen Glieder. (Oct. 1—2.)
artig bescheiden in Bezug auf Abänderungen zum Regierungsentwurf ver-
halten, daß man vielleicht- annehmen durfte, es jei für die übliche Neigung
der Mehrheit, bei zweiten Lesungen sich dem Regierungsstandpunkt noch weiter
zu nähern, kaum noch genügender Spielraum gelassen. Diese Annahme hat
sich aber diehmal nicht bestätigt. Abgesehen davon, daß ein Amendement,
welches nach ausgeschriebenen Wahlen den Sozialisten Wahlversammlungen
gestatten wollte, mit Stimmengleichheit abgelehnt wurde (Lasker und Ven-
nigsen dafür) strich man überall mit 11 gegen 9 Stimmen (Lasker stimmte
mit der Minderheit, Bennigsen und die übrigen Nationalliberalen mit der
Mehrheit# den in erster Lejung angenommenen Zusatz, wonach die sonst für
Polizeiverfügungen bestehenden Rechtskontrolen (Berufung an die Verwaltungs-
gerichte) auch gegen Polizeiverfügungen auf Grund dieses Gesetzes Geltung
haben sollten. Dieselbe Mehrheit beseitigte auch das Erforderniß einer vor-
herigen Verwarnung für die Unterdrückung einer periodischen Truckschrist.
Minister Enlenburg erklärte, daß die Regierungen „nicht in der Lage seien“,
diese kleine Einschränkung anzunehmen. Ausgeschlossen blieb nur durch die
Fassung die vom Minister Graf Eulenburg dem Regierungsentwurf gegebene
Auslegung, wonach schon die Haltung eines Blaltes vor Erlaß des Gesetzes
zum Verbot desselben genügen jollte, auch wenn das Blatt nach dem Er-
scheinen des Gesetzes sich den Ton des Reichs aanzeigers zum Muster nimmt.
Denn, sagte der Minister, die „Tendenz kennen wir", die Annahme einer
Wandlung im Herzen ist ausgeschlossen und weichliche Rücksichten müssen
ausgeschlossen bleiben. Der & 1 des Gesetzes blieb zwar im Wesentlichen in
der Lasker'schen Fassung aus der ersten Lesung bestehen, doch verharrten Con-
servative und Regierung in ihrem Prolest gegen die von Lasker übergebenen
Motive zu seiner Fassung. Bennigsen erklärt, daß, da über Motive nicht
abgestimmt werden lönne, die Auslegung eines Jeden „nur subjektiv“ sei.
Eine weitere Verschlechterung gegen die Beschlüsse erster Lesung wurde (Lasker
blieb auch hier in der Minderheit) dahin vorgenommen, daß die Befugniß
zur Verbreitung von Druckschriften statt auf Grund des Gonzessionsveriahrens
(in Preußen vor Verwaltungsgerichten) einfach von der Polizeibehörde ab-
erkannt werden kann, und daß nicht nur bei Wirthen, sondern auch beie
Druckern und Buchhaͤndlern das Gericht die Befugniß zum Gewerbebetrieb
entziehen kann. Die Geschäftsordnung der als oberste Beschwerde-Instanz;
eingesetzten Commission wurde der Bestätigung des Bundesraths unterworfen.
Endlich wurden die Regierungen von der Rechenschaft vor der Landesver-
tretung bei Berhängung des sog. kleinen Belagerungszustandes entbunden;
nur vor dem Reichstage sollen sie sich verantworten müssen. Hiernach blieb
als Differenzpunkt den Negierungen gegenüber, abgesehen von der wenig in
Betracht kommenden Frage, ob die oberste Beschwerdekommission mit etwas
mehr oder weniger richterlicher Beimischung gebildet werden soll, nur die
Frage der Gilligkeilsdauer des Gesetzes übrig. Die Commission bewilligte
2½ Jahre, der Minister verlangte, „wenn das Gesetz nicht zu Fall kommen
soll“, 5 Jahre, den arithmetischen Compromiß zwischen 21½ und 5 zu finden,
wird also den Nationalliberalen im Plenum übrig bleiben. Lasker erklärte,
bei der Schlußabstimmung über das Geseh im Ganzen sich der Abstimmung
zu enthalten. Alles politische Interesse knüpft in diesem Angenblicke an
dieses Gesetz au. Und doch ist es eigenklich nicht das Gesetz selbst, sondern
die Stellung der nationalliberalen Partei zu demselben, was vorzugsweise
interessirt. Das Gesetz selbst wird unzweifelhaft zu Stande kommen; eignet
sich die Mehrheit einmal die Anschauungsweise des Gesetzentwuris an, daß
eine einzelne politische Parteirichtung unter Umständen durch Polizeimittel
zu unterdrücken sei oder unterdrückt werden könne, so erscheinen die Form-
fragen, über welche die Commission nunmehr zwei Wochen hindurch verhandelt