Has deulsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Oct. 9—10.) 161
vor allem Wissenschaft und Umsicht gehört, wie sie in Mehrheitsbeschlüssen
einzelner Gemeinden nicht überall vorausgeseht werden dürfen. Immerhin
aber ist stets auf das Einverständniß zwischen Geistlichen und Gemeinden
der größte Werth zu legen. Betreffs der landesherrlichen Rechte hat der
Verein früher beschloisen, daß das landesherrliche Kirchenregiment, soweit es
besteht, erhalten bleiben soll, und ist dafür von rechts und links getadelt
worden. Keinesfalls hat damit gesagt sein sollen, daß durch die neuen
Synodalordnungen der Landesfürst als ronstilutioneller Papst über der Kirche
stehen solle. Speziell“ in Preußen ist der König nie als persönlicher Bischof
anerkaunt worden. Die Erfindung des Praccihunm membrum ist neueren
Datums; ganz neuesten Datums ist aber die Auslegung: die Synodalordnung
ebe dem Landesherrn eine unwürdige Stellung, weil er an Oberkircheurath
und Generalsynode gebunden sei. Das ist eine kleinliche Parallele zum Vati-
canum, nach welchem der Papst ex sese Dogmen definirt. Wie die Hohen-
zollern das Kircheuregiment aufgefaßt haben, ist in einer Erllärung nieder-
gelegt, die noch jeder Herrscher seit Johann Sigismund (1612) anerkannt
hat. Zum Schlusse rekapitulirt Redner die einzelnen Punkte, über welche
Beschwerde zu führen ist, und lnüpft daran die Mahnung: heut utage, wo
das Evangelium des Materialismus gepredigt werde und viele Gläubige finde,
alle diejenigen, welche auf dem Boden des wahren Evangeliums zusammen-
slehen, zusammeyhufaffen, damil dem Volke das Ohristenthum erhalten werde.
Deßhalb richte er an alle die dringende Bitte: Bestehet in der Freiheit, auf
die Christus uns gestellt hat, und laßt uns wachsen dureh das Band der
Liebe! Professor Pfleiderer (Verlin) macht unter dankender Anerkennung
der objektiven Darstellung des Vorredners seinen abweichenden Standpunkt
betreffs des Gemeinderechtes geltend. Das eigentliche Pringip der Rirchen-
bildung ist die zusammenhaltende Kraft des Evangeliums. Wenn das Evan-
gelium diese Kraft wirklich hat, dann bedarf es keiner äußerlichen Zusammen-
jassung. Wo der Geist Gottes ist, da ist auch die Einheit vorhanden, auh
wenn keine äußere Kirchenzucht da ist. Eine staatskirchliche Verbindung ist
immer willkürlich und ohne die Garanlie, daß der heilige Geist bei ihr eei.
Es sind eben auch Menschen, durch welche die Kirche regiert wird, und es
geht bei ihnen oft recht menschlich zu. Mit den Synoden sind wir aus dem
Regen in die Traufe gekommen. Abgesehen von Baden, hat die cvangelische
Freiheit nirgends in den Synoden eine Stätte gesunden. Es ist bei uns so
schlimm, daß man fast meinen könnte, unter dem Papst wäre es noch er-
träglicher. Die Mehrheit der Synoden wird durch heillosen Terrorismus
usammengehalten. Die protesantische Kirche ist auf dem dentschen Reichs-
lag dadurch entstanden, daß eine Minderheit erklärte: „In Sachen des Glau-
bens und Gewissens gibt es keine Mehrheit.“ Daran mus festgehalten werden.
Aber auf den Synoden entscheidet die Mehrheit auch in Sachen des Glau-
bens und Gewissens. Darum fsoll allerdings nicht die synodale Ordnung
umgestoßen werden, doch soll sie auf das äußere kirchliche Leben beschräukt
werden. So wird das Gemeinderecht zum Sicherheitsventil für die Landes-
lir rche. Prediger Richter: Tie Frage: wie in der protestantischen Kirche die
Lehrfreiheit voliständin sicher zu stellen sei, ist noch nicht gelöst. Wenn der
Vorredner das Evangelium für ein genügendes Vand hält, warum will er
dann die Landeslirchen nicht ganz beseiligen! Warum bobin wir neben den
10 Geboten doch noch Justig= und Rechtspflege? Weil wir nicht bloß die
unsichtbare, sondern auch die sichtbare Kirche vertreten; dethalb genügt uns
das ideale Band des Evangeliums nicht. Wir bedürfen für die Kirche be
stimmter Ordnungen. Mit warmen Morten bittet Redner, nicht schon
jebt über unsere synodale Entwicklung abzuurtheilen, wo sie noch gar nicht
bis in die äußerste Spihe in Erscheinung getreten sei. Auch erinnert
Schulthevs. Gurop. Geschichtelalender. XIX. M. 11