Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

164 Dos deulsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Oct. 13—14.) 
Bekämpsung der Sozialdemokratie“. Zwei Irrthümer seien noch immer gäng 
und gäbe, welche die wirksame Belämpfung der Sozialdemokratie beeinträch- 
tigen; man halte erstlich die Sozialdemokralie, dieses Symptom eines inneren, 
aber heilbaren Leidens, für eingeschleppt wie den Kolorado-täfer, und zwei- 
tens verdächtige man als sozialdemokratisch alles, was sozial und Arbeiter 
heiße. Die erste Waffe gegen die Sozialdemokralie sei die Bildung. (Höhni- 
sches Gelöchter seitens der anwesenden Sozialisten.) Die große 1 # gial- 
demolratischer Stimmen bei den Neichstagswahlen enthalte einen Ruf nach 
Reform des Unterrichtswesens, nach Erhöhung des gesammten Bildungs- 
nivean's. Aber die Bildung genüge- zu einer zweckentsprechenden Belämpfung 
der Sozialdemokratie noch nicht. Die Unzufriedenheit, welche die Arbeiter 
den Sozialdemokraten in die Arme führt, sei vielfach berechtigt, und die Ar- 
beitsverhältnisse namentlich seien einer Besserung bedürftig. Redner kommt 
daun zu sprechen auf die Nothwendigkeit des Schutzes der jugendlichen und 
weiblichen Arbeiter, der Beseiligung übermäßiger und ungeeigneter Frauen- 
arbeit, des Schutzes der Arbeiter überhaupt gegen Einrichtungen, welche Un- 
sälle herbeiführen helfen, die Abstellung übermäßiger Arbeitszeit („der frei- 
willig eingeführte Normalarbeitstag würde ein großer Sieg über die Sozial- 
demokratie jein") und der Erhöhung des Antheils der Arbeiter am Arbeits- 
ertrage, den selbst Bismarck und Bennigsen für nolhwendig erachteten. Eine 
unberechtigte Lohnreduktion schlachte die Henne, die goldene Eier legt, wäh- 
rend eine angemessene Lohnerhöhung auch eine höhere Leistung zur Folge 
babe. Auch die Behandlung der Arbeiter mache viele zu Sozialdemokraten; 
Diseiplin sei nöthig, aber Werlstätten und Fabriken seien keine Kasernen. 
Man gewähre den Arbeitern eine Mitwirkung bei der Aufstellung der Fabrik- 
Ordnungen 2c. Höchst beachtenswerlh sei die hie und da mit Erfolg durch- 
geführte Betheiligung der Arbeiter am Reingewinn. Die soziale Aeform 
müsse sich auch auf materielle Hilje, auf Hilfslassen rr. erstreen. Als das 
sicherste Bollwerk gegen die Softaldemokratie bezeichnete Dr. Hirsch schließlich 
die dentschen Gewerkvereine. Sein Vortrag wird vom größten Theile der 
Versammlung mit lebhaftem Beifall anfgenommen, während die zahlreich 
anwesenden Sozialdemokraten ihr Mißzfallen durch Zischen 2c. kundgeben und 
als dieß ernenertes Beifallsklatschen veranlaßt, einen solchen Lärm machen, 
daß VBizepräsident Noth erllärt: Sozialdemokraten gehörten eigentlich gar 
nicht in einen Saal, in welchem eine ankisozialdemokratische Versammlung 
siattfinde. Dagegen ist Dr. Hirsch, dem es „nichts Neues ist, von den Sozial= 
demokralen beleidigt zu werden“, der Ansicht, daß es nichls schade, wenn 
auch Sozialdemokraten der Versammlung beiwohnten, da sie dabei ja nur 
elwas lernen könnten; anständig und höflich freilich müßten sie sich als Gäste 
benehmen. Daraufhin verläßt eine Prößere A00 der Sozialdemokralen in 
demonstraliv lauler Weise den Saal. Hierauf folgt ein Bericht des General- 
Sekretärs Keller (Berlin) über „die Aufgaben des Ausschusses und der Ver- 
trauensmänner des deutschen Arbeiter-E Congresses“. Zu diesen gehört vor 
allen die: eine Arbeiter= und Arbeitsstatistik ins Leben zu rufen und die 
Mitthätigkeit aller Berufenen zur Aufbesserung des Lehrlingswejens und zur 
Einführung der gewerblichen Schiedsgerichte in Anspruch zu nehmen. Leider ist 
aber, wie Neferent einräumt, troy alles schönen Wollens Seitens der zu- 
nächst Betheiligten, praktisch noch außerordentlich wenig gethan. Der Re- 
dakteur Kutschbach (Dorlmund) befürwortet hierauf speziell die Schaffung 
einer Arbeiler-Statistik, die auch für die Gesetzgebung von Bedeutung sein 
würde. Korreferent Drr. Hirsch (Berlin) bezeichnet eine jolche Statistik als 
den entschieden wichtigsten Zweig der Statistik überhaupt. Vizepräsident 
Noth *- ist der Ansicht, baß es mit der Arbeiter-Statistik nicht so 
schlimm ausjehe, als man glaube. Das Nichtvorhandensein einer vergleichen-
	        
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