Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

332 EGroßbrittannien. (Nov. 9.) 
rath Giers (vom Reichskanzleramt) erhalten, welche die Versicherung 
gibt: es sei der Wunsch des Czaren, den Stipulationen des Berliner 
Bertrages jede gehörige Rücksicht zu schenken und die lebhaft ge- 
wünschte Pacificirung durch getreuliche Ausführung des Vertrages 
herbeizuführen; kein kaiserlicher Beamter werde in dieser Hinsicht 
seinen Pflichten fehlen. (Vgl. unter Rußland und unter Pforte.) 
9. November. Lord Beaconsfield spricht sich gelegentlich des 
Lordmayorsbankettes fehr bestimmt über die strikte Ausführung des 
Berliner Vertrags und zwar innerhalb der festgesetzten Frist aus: 
Die orientalische Frage, welche in Jedermanns Munde ist, hat 
ein dopbeltes Antlib. Wir müssen nicht nur die Sicherheit unseres indischen 
Reiches ins Auge fassen, es gibt noch eine andere Seite der orientalischen 
Frage, und die betrifft die Unabhängigkeit Europa“s, insbesondere die der 
Mittelmeermächte (hört! hört!), ich will sagen aller Mächte, deun die Politik, 
welche wir verfolgen werden, wird die schädliche Uebermacht eines einzelnen 
Staats verhindern. (Beifall.) Dieses große Ziel war, so weit die Meinung 
in Frage kommt, nur dadurch zu erreichen, daß der Sultan wahrhaft unab- 
häugig gemacht wurde. Als wir zum Gongresse nach Berlin gingen, wurde 
dieser Punkt in gleicher Weise von allen Mächten anerkannt, welche den 
Vertrag untergeichnen wollten. Es ist gesagt worden, daß dem Sultan durch 
die Bestimmungen des Berliner Friedens Provinzen und mehrere Millionen 
Unterthauen genommen worden seien. Nun wohl, die Politik, welche auf 
dem Congresse in Berlin eingeschlagen wurde, war folgende: Es handelte 
sich darum, den Sultan aus jenen verderblichen Beziehungen zu Psendo- 
vasallen und kleinen VBölkerschaften zu löjen, die, verschiedenen Stammes und 
Glaubens, beständig bereite Werkzeuge eines der Pforte feindlich gesinnten 
Geistes und Einflusses waren und sich so verhielten, daß der größere Theil 
des europäischen Gebietes des Sultans der Schauplaß steter Verschwörungen 
war, die nur mit gelegentlichen Empörungen abwechselten. Um den Sultan 
von dieser Ursache steter Erschöpfung zu befreien, traf der Berliner Congreß 
die Bestimmungen, welche jeßzt die Stellung des Sultans in Europa regeln. 
Dieser Politik folgend, sicherte der Berliner Congreß dem Sultan eine un- 
einnehmbare Hauptstadt, den Schuß, die Wacht und den Besitz der Darda- 
nellen, reiche Provinzen in der enropäischen Türkei, einen sehr werthvollen 
Hafen am schwarzen Meere und, allgemein ausgebrict: eine verständliche 
Grenze. Zugleich ist er unter solchen Verhältnissen ein Fürst geworden, der 
sich auf 20 Millionen Unterthanen stüten kann, welche, wie man bald sehen 
rd „#n ihrer Berwallung, ihrem Wohlstande, ihren Hilfsquellen und ihrer 
6t sich heben werden. Ein so gestellter Fürst würde einen nicht un- 
bhtnichen Einslufe besitzen und könnte denselben ansüben, um das poli- 
tische Gleichgewicht aufrecht Zu erhalten. Ich weiß, daß man gesagt hat, 
diese freilich wahrscheinlichen Aussichten seien nicht erfüllt worden, und der 
Berliner Vertrag habe schon gezeigt, daß er die Erfolge, welche er erzielen 
wollte, nicht zu erreichen im Stande war. My Lord Mayor, wenn die 
Congreßaufgaben, die in Berlin ausgeführt wurden, in 24 Stunden erlchigt. 
werden könnten, so wäre ein Congreß unnöthig gewesen. So oft ein Ver- 
trag von einem großen Congresse ausgegangen ist, hat er immer eine gewisse 
Zeit vorgesehn, innerhalb deren die Ausführung erfolgen soll. Der Be rliner 
Vertrag ist nicht verschieden von anderen Verträgen in dieser Hinsicht. Eine 
bestimmte Zeit ist vorgesehen und vorgeschrieben, in welcher Frist die Be- 
 
	        
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