Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

Rußland. (April Mitte — 20.) 443 
einem Füllhorn reichlich ausgestreut haben. Das revolutionäre 
Schriftstück trägt die Aufschrift: „Revolutionäre Auseinandersetzung“ 
und das Datum: 7. April 1878. Ohne die Bedentung derartiger 
revolutionärer Schriftstücke zu überschätzen, wird man es als wahr- 
scheinlich bezeichnen dürfen, daß die inneren Schwierigkeiten für 
Rußland in bedenklicher Steigerung begriffen sind. 
Mitte April. In Nikolajeff, Cherson, Krementschug, Jekate- 
rinoslaw und Poltawa haben sich Comitoes gebildet, um freiwillige 
Geldbeiträge zum Ankaufe von Kaperschiffen zu sammeln. Alle 
Schichten der Bevölkerung nehmen eifrigen Antheil an der Verwirk- 
lichung dieses Projectes, von dem man sich große Erfolge verspricht. 
Die Dumas (Gemeinderäthe) zeichnen ganz respeckable Summen. 
Für diese Gelder sollen Schiffe in Amerika angekauft, mit russischen 
Matrosen bemannt und dem Marineminister zur Verfügung gestellt 
werden. 
20. April. Studentenunruhen in Kiew. Die Studenten werden 
dabei von den Behörden aufs rücksichtsloseste behandelt. 
Da die rusfsische Presse über derlei Dinge nichts bringen darf, so sind 
zuverlässige Angaben nicht möglich. Oesterreichische Blätter berichten darüber 
aus Kiew: Ein Attentat auf den Procuratorsgehilfen Rotlarewski war vor 
etwa einem Monat in einer belebten Straße vorgefallen. Drei Personen 
fenerten auf Kotlarewski, der aus dem Theater ging, Schüsse ab. Kotla- 
rewsti blieb unverletzt; nur sein Pelz wurde durchlöchert. Den drei An- 
greifern gelang es, wie es in solchen Fällen hier gewöhnlich geschieht, un- 
aufgehalten zu entkommen. Kurze Zeit darauf wurde in Nostock ein Mann 
auf der Straße erschossen, der, wie man sagt, in die verschiedenen Verzweigungen der 
nihilistischen Verschwörung eingeweiht. war. In Charkoff, Odessa, Pultawa 2c. 
erschienen Proclamationen, die jeden Verräther an der heiligen Sache mit 
dem Tode bedrohten. Angesichts dieser Borgänge wurde hier in leßter Zeit 
die Jagd nach Verschwörern mit besonderem Eijer betrieben. So wurde denn 
schließlich ein junger Studioins verhaftet, gegen den, wie allgemein versichert 
wird, nichts anderes vorlag, als daß ein Nevolver bei ihm vorgefunden 
wurde. Die Collegen des Verhasteten fwendelen sich daraufhin an die Uni- 
versitätsbehörde und an den Generalgonverneur mit dem Ansuchen, den ver- 
hafteten Kameraden, der ein fleißiger Student und vielleicht ganz unschuldig 
sei, und der bei seiner schwachen Gesundheit durch längere Kerkerhaft physisch 
zu Grunde gerichtet werden müßte, in Freiheit zu seyen. Die Studenten 
erboten sich hiebei, jedwede Bürgschaft für den betreffeuden jungen Mann 
zu leisten. Man versprach den jungen Leuten thunlichste Berücksichtigung 
ihrer Bitte und berichtete in#wischen nach Petersburg. Von da kam der 
Bescheid, der Verhaftete dürfe vorläufig nicht freigelassen werden, wohl aber 
sei die Untersuchung sofort durchzuführen und, falls dieselbe die Schuldlosig- 
keit ergebe, die Freilassung des Studenten zu verfügen. Statt nun den Siu- 
denten diesen Sachverhalt in beruhigender Weise auseinanderzuseben, wurden 
hier deren Deputationen jetzt mit der taktlosesten „Energie“ behandelt. Sehr 
scharf trat namentlich der Universitätsrector Professor Matwejeff auf, der die 
jungen Leute auschrie 2c. Hiedurch gereizt, ließen sich einzelne Studenten zu
	        
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