Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

522 Nebersicht der polilischen Eulwichelung der Jahres 1878. 
schriltsparlei sland darin nicht ganz allein: auch die maßgebende 
nationalliberale Partei neigte sich wenigstens theilweise ähnlichen 
Anschauungen zu, wenn auch nicht ohne allerlei Bedenken. Der 
Reichskanzler aber war seinerseits entschieden gegen eine Aenderung 
der Verfassung und überhaupt gegen die Aufstellung von verantwort- 
lichen Neichsministern. Wiederholt setzte er dem Reichstage in aus- 
führlichen Darlegungen auseinander, daß der Bundesrath dadurch 
in seiner bisherigen Stellung und seinem bisherigen Einflusse eine 
schwere Einbuße erleiden würde und daß die Regierungen der Ein- 
zelstaaten darum dem Plane schwerlich zustimmen würden, daß, 
selbst wenn dieser Widerstand überwunden werden könnte, mit der 
Ausstellung von Reichsministern gar nichts geholfen wäre, daß die 
Reichsregierung dann erst recht machtlos gewissermaßen in der Luft 
stände, der Einfluß der Reichsidee, die Kraft der Reichsregierung 
also dadurch nicht gestärkt, sondern vielmehr enischieden geschwächt 
würden. Unzweifelhaft habe das Reich in der kurgen Spanne Zeit, 
da es bestehe, in seiner Entwickelung und Ausbildung große Fort- 
schritte gemacht, aber darum dürfe man nicht verkennen, daß es 
wesentlich ein föderales Gebilde sei und jene Fortschritte nur durch 
die freie Zustimmung der Eingzelregierungen hätten ergielt werden 
können. Wenn die Fortschritte nicht größere und raschere gewesen 
seien, so liege die Erklärung darin, daß manches an dem Wider- 
streben eben dieser Einzelregierungen, an dem vielfach durch und 
durch particularistischen Wesen der Nation gescheitert sei. Dieser 
parlicularistische Zug werde nur mit der Zeit gemildert und über- 
wunden werden können. Ihn durch Reichsminister vor den Kopf 
zu sloßen, würde ihn zunächst sicher nicht schwächen, sondern nur 
stärken. Der Reichslanzler bat daher dringend, die Bestimmungen 
der Reichsverfassung bezüglich seiner ausschließlichen Verantwortlich- 
kleit zu belassen und nur für seine Stellvertretung nach dem augen- 
Pläne blicklichen Bedürfniß besorgt zu sein. Inzwischen war jedoch auch 
rz er, und das im Grunde mehr noch als irgend welche politische 
tunzlers Parlei, bemühl, die Kraft der Reichsregierung zu slärlen und ihren 
Einfluß zu vermehren, und wenn er, dem Wunsche seines kaiserlichen 
Herrn entsprechend, darauf vergichtet hatte, sich von den Geschäften 
völlig zurück zu ziehen, so war es nur unter der ausdrücklichen oder 
stillschweigenden Bedingung geschehen, daß ihm dieß möglich gemacht 
würde. Aber im Gegensatze gegen die Ideen der Fortschrittspartei 
suchte er dieses Ziel vielmehr von der gerade entgegen gesetzten Seite
	        
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