Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

Nebersicht der polilischen Eulwichelung des Jahreo 1878. 533 
Restbeständen verschiedener Kassen um nicht weniger als 22 Mill. 
bis auf den Betrag von ca. 6 Mill. herabgemindert worden, welche 
kleine Summe nicht mehr geeignet sein konnte, besondere Besorgnisse 
zu erregen. Die Nothwendigkeit, dem beständigen, alljährlichen An- 
wachsen der Matricularumlagen im Interesse der Finanzen der 
Einzelstaaten Schranken zu seben, und der Wunsch, diese Umlagen 
überhaupt gänzlich oder doch zum größeren Theile zu beseitigen und 
durch eigene Einnahmen des Reichs aus indirecten Steuern zu er- 
setzen, blieb darum freilich doch bestehen; aber dazu allein war es 
doch nicht nöthig, die Stenerlast des Volkes um zwei bis drei- 
hundert Millionen zu vermehren. Um diese zu erzielen, mußte der 
Reichskanzler nothwendig noch andere Factoren, andere Mächte, an- 
dere Interessen ins Spiel ziehen. Dennoch ging er in dieser Be- 
ziehung vorerst noch langsam vor. Zunächst begnügte er sich, beim Eisen- 
Bundesrath auf die Einsetzung einer Commission behufs einer ein- i 
geheuden Enquete über die Nothlage der Eisenindustrie und etwasgi 
später auch auf eine solche behufs Prüfung der gleichfalls noth- 
leidenden Textilindustrie anzutragen, welchem Antrage der Bun- 
desrath ohne Bedenken entsprach. Damit war für die Wiederein- 
führung eines umfassenden Schutzzollsystems für Industrie und 
Landwirthschaft wenigstens ein Anknüpfungs= und Ansgangspunkt ge- 
wonnen. Die Frage hatte Zeit, zu reifen, da die gange Aufmerk- 
samkeit der Nation, der Regierungen und des Reichstags inzwischen 
gewaltsam nach einer andern Seite gelenkt und vollauf in Anfpruch 
genommen wurde. 
Am 11. Mai, als der Kaiser mit seiner Tochter, der Groß-ulentat 
herzogin von Baden, von einer Spazierfahrt nach dem Palais zurück= Höel. 
fuhr, wurden unter den Linden mehrere Revolverschüsse mitten aus 
der ihn ehrfurchtsvoll begrüßenden Menge auf ihn abgefeuert. Er 
blieb glücklicher Weise vollständig unverletzt, der Thäter aber wurde 
sofort ergriffen. Es war ein gewisser Hödel, ein ehemaliger Klempner= 
geselle, der jedoch, ein ganz verkommenes Subject, seine ursprüng- 
liche Thätigkeit aufgegeben hatte, sich zu sozial-demokratischen Grund- 
sätzen bekannte und in letzter Zeit durch Colportage sozial-demo- 
kratischer Blätter und Broschüren seinen Lebensunterhalt zu verdienen 
gesucht hatte. Die That machte auf die Nation einen furchtbaren 
Eindruck. Der Kaiser genoß in allen Kreisen der Nation einer 
unbedingten Achiung und Verehrung, eines Zutrauens und einer 
Liebe, wie sie sich ein Herrscher nur wünschen kann, und hatte zu
	        
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